
[Copacabana/ Titicaca-See] Wir sind in Copacabana (… nein, das andere) angelandet und blicken auf ein Gewässer, das ein See sein soll und doch wie ein Binnenmeer aussieht. Der Titicaca-See ist mit seinen 8.372 km² 13-mal größer als der Bodensee und mit seiner Höhenlage (3.812 Metern) der höchste schiffbare See der Welt.
Und er hat einen hohen mystischen Gehalt: in der andinen Glaubenswelt ist hier im See die Schöpfungsgeschichte angelegt, die sich auch die Inka zunutze gemacht haben. In der Mythologie der Inka trat der Urschöpfer (bzw. erste Inka) „Viricocha“ aus dem See und erschuf unter anderem den Sonnengott „Inti“ sowie die Mondgöttin „Mama Killa“. Später erschufen diese Götter das erste Inka-Paar mit Manco Capac als Stammvater und Mama Ocllo als seine Gefährtin. Prominenteste Inseln des Titicaca-Sees sind die Isla del Sol (Sonneninsel) und die Isla de Luna (Mondinseln), die zu Inka-Zeiten dicht besiedelt und mit Tempeln der entsprechenden Gottheiten bebaut waren. Bereits lange vor den Inka war die Sonneninsel ein heiliger Ort und wies sakrale Orte aus der Zeit der Tiwanaku-Hochkultur (600 – ca. 1.000 unserer Zeitrechnung).
Man würde also eine ganze Menge steinerne Zeugen der alten Zeiten erwarten. Und eine gute lokale Aufbereitung der Geschichte, zumal Bolivien – anders als Peru – nicht allzu viele Inka-Stätten vorzuweisen hat. Leider Fehlanzeige! Nach zweistündiger Bootsfahrt von Copacabana zur Isla del Sol steigen wir in Challapampa im Norden der Insel aus und machen uns auf eine 15-Kilometer-Tour, die uns über die ganze Insel von Nord nach Süd führt. Wer hier auf Wegweiser, Schilder oder gar Erläuterungstafeln hofft, sieht sich enttäuscht. Wer eine Vielzahl von Ruinen erwartet, wird nur auf karge Berge mit viel Geröll stoßen. Letztlich sind die visuellen Highlights: a) das sog. „Labyrinth“ (Chincana) im Norden, wo eine alte Siedlung erkennbar ist; b) der „Heilige Fels“ (Titikala), der gut als Fels erkennbar ist und dem die Sonne entsprungen sein soll; c) im Süden der „Templo del Sol“, vor einigen Jahren noch ein halbverfallene Ruine, die offenbar stark rekonstruiert wurde.



Sensible Leser*innen werden einen Hauch Enttäuschung spüren, die aber durch den spektakulären Blick auf den See und den Höhenwanderweg (auf den gepflasterten Inka-Wegen) wettgemacht wird. Ich vertreibe mir die (durch fehlende Sehenswürdigkeiten gewonnene) Zeit mit einem Stein, den ich ein paar Meter weit kicke und feststelle, dass dieser Stein wohl schon sehr lange keine so weite Strecke zurückgelegt hat (und wohl auch noch ein paar Jahrzehnte exakt dort liegen bleiben wird). Oder mit Käfergedanken: ein schwarzer Käfer kreuzt meinen Weg und verschwindet in der steinernen Prärie. Ich frage mich, wie vielen Menschen dieser Käfer in seinem Käferleben schon begegnet ist. Vermutlich bin ich einer der ganz wenigen, wenn nicht der einzige Mensch in seinem Leben. Interessant. Mangels Getiers gibt es leider keine weiteren Anekdoten von der Isla del Sol zu berichten.
Mit Mühe erreichen wir das letzte Boot zurück nach Copacabana, stürzen förmlich die sog. „Inka-Treppen“ in Yumani hinunter zum Anleger (immerhin 275 Höhenmeter). Auf dem Rückweg nutze ich die Zeit und lese über den Sonnenkult und die Bedeutung der Sonneninsel zu Inka-Zeiten. Die gesamte Halbinsel war damals Teil einer staatlich organisierten Pilgerfahrt. Da Isla del Sol mit der Isla la Luna (neben dem in Cusco und dem Orakel in Pachacamac) zu den drei wichtigsten Pilgerstätten des Inkareiches gehörten, gaben sich die Spanier allergrößte Mühe bei der Auslöschung des alten Glaubens und seiner Zeugnisse. Erfolgreich, wie wir feststellen mussten. Dazu gehört auch die Errichtung der „Basilica de Nuestra Señora de la Candelaria“ auf den Grundmauern eines alten Inka-Tempels in Copacabana. Bis heute ist Copacabana der bedeutendste Wallfahrtsort Boliviens, u.a. durch die „Viren Morena“, die schwarze (!) Jungfrau. Die etwa ein Meter große Holzfigur wurde 1576 von Francisco Tito Yupanqui aus dunklem Holz geschnitzt. Der Künstler soll Enkel des Inka Huayna Cápac gewesen sein. So erweist sich der Katholizismus genauso flexibel wie die Inka bei der Adaption lokaler Religionskulte und am Ende ist alles ein buntes Amalgam.

Das zeigt sich nicht zuletzt in einer skurrilen Besonderheit Copacabanas: Autofahrer aus Peru und Bolivien kommen mit ihren Kraftfahrzeugen in die Stadt, um ihre motorisierten Lieblinge taufen und segnen zu lassen. „Bendición de Movilidades nennt sich das und findet montags bis freitags um 10h und 14:30h, an Sonn- und Feiertagen sogar dreimal täglich an der Basilica statt. Im August werden zu Spitzenzeiten bis zu 50.000 Fahrzeuge gesegnet … so hat jede Zeit ihre eigenen Götter!