[Coroico/ Yungas] Coca ist eine Pflanze, die spätestens seit der Inka-Zeit tief mit politischen, sozialen, ökonomischen und religiösen Aspekten der bolivianischen Gesellschaft verbunden ist. Bolivien ist eines der größten Coca-Anbaugebiete der Welt. Zu Inka-Zeiten war es eine religiös bedeutsame Pflanze, deren Nutzung und Konsum der Oberschicht vorbehalten war. Die spanischen Konquistadoren erkannten den wirtschaftlichen Nutzen, indem die versklavten, indigenen Minenarbeiter mit Hilfe der Coca-Pflanze wirksamer ausgebeutet werden konnten. Coca erhöht die Leistungsfähigkeit, mildert Schmerzen, Müdigkeit und Hungergefühle. Für ein paar Jahre lagen die Interessen des spanischen Katholizismus und des Kapitals im Widerstreit: die katholische Kirche im Vizekönigreich Lima sah den magisch-religiösen Gebrauch des Coca kritisch und verbot 1551 deren Nutzung. Die Inquisition wurde mit der Ausmerzung des Coca-Konsums beauftragt. „Es ist eine Pflanze, die der Teufel gesendet hat, um die Sterblichen zu zerstören“ (Zitat gem. Coca-Museum in La Paz, alle weiteren Zitate dieselbe Quelle).

Das sahen die Silberminenbesitzer von Potosí etwas anders. Sie benötigten spätestens ab 1545 ein riesiges Arbeitskräftepotential, um die Silbervorkommen auszubeuten. Die Indios mussten  mehr als 48 Stunden unter Tage arbeiten, „durchgehend ohne Nahrung und ausreichende Pausen und nur das Coca-Kauen ermöglichte ihnen das Durchhalten“. Wie so oft und bis heute siegte der Kommerz über den Glauben und wie so oft und bis heute arrangierte sich die Kirche dabei ganz vorzüglich. 1573 stellt König Philipp II fest, dass der Gebrauch von Coca für das „Wohlbefinden der indigenen Bevölkerung“ unabkömmlich sei (!). Flexibel wie die Kirche ist, stellte sie ihre Bedenken angesichts dieses irdischen Anliegens zurück. Gemäß dem Motto „Wenn wir es nicht verhindern können, dann wollen wir wenigstens davon profitieren“ wurde die Inquisition durch eine kirchliche Coca-Steuer ersetzt. Ab diesem Moment waren die Interessen von Kirche, Krone und Kapital wieder gleichgerichtet. „Im 16. Jahrhundert erreicht die katholische Kirche einen immensen Reichtum, welchen sie durch Steuern, die sie auf die Coca-Pflanze verlangte, erzielte“.

Die Coca-Produktion war über Jahrhunderte in der Hand von europäisch-stämmigen und sehr reichen Haziendenbesitzern („coca hacendados“), deren faktisches Monopol erst durch die bolivianische Revolution 1952 gebrochen wurde. Ein Großteil der Coca-Produktion lag damals (wie heute) in der Region der Yungas. Die „Gesellschaft der Coca-Händler aus dem Yungas-Gebiet“ war ein mächtiger Zusammenschluss weißer, europäisch-stämmiger Großgrundbesitzer, die immer wieder auch die bolivianische Präsidentschaft stellten (z.B. Andrés de Santa Cruz oder J.L. Tejada Sorzano).

Schön jenseits des Coca-Anbaus: die Yungas in Bolivien (hier lebte auch Altnazi Klaus Barbie versteckt …)

Mit der Entdeckung des Kokains als Betäubungsmittel in Europa expandierte das Geschäft mit der Coca-Pflanze ab Mitte des 19. Jahrhunderts enorm. Kokain wurde damals als „Wunderdroge“ auf der ganzen Welt geschätzt und der Handel mit Coca- bzw. Kokain-Produkten (u.a. Coca-Cola, das 250 mg Kokain pro Liter enthielt) breitete sich auf der ganzen Welt aus. Kokain wurde im 20. Jahrhundert zu einer weltweit verbreiteten Droge, die UN setzten Kokain 1961 ebenso wie den Anbau der Coca-Pflanze auf die Verbotsliste, was für viele Kleinbauern in Südamerika zum Problem wurde. Die USA führen seit 1971 ihren eigenen Krieg gegen die Drogen in Südamerika („War on drugs“), der bis heute anhält. Für die Coca-Bauern in Bolivien ist das Verbot und die Kriminalisierung des Coca-Anbaus (nicht der Kokain-Produktion!) ein wirtschaftliches Problem, das zur Existenzbedrohung wird, sowie ein tiefer Eingriff in die kulturellen, sozialen und religiösen Bezüge. Der Widerstand gegen die UN-Verbote und US-Sanktionierung kulminierte 2006 in der Wahl von Evo Morales zum Präsidenten, Morales kam aus der Coca-Gewerkschaftsbewegung und war selbst Coca-Bauer.

Morales setzte einen Verfassungszusatz durch: „The State shall protect native and ancestral coca as cultural patrimony, a renewable natural resource of Bolivia’s biodiversity, and as a factor of social cohesion; in its natural state it is not a narcotic. Its revaluing, production, commercialization, and industrialization shall be regulated by law.” (Wiki)

Formal ist der Anbau und private Gebrauch von Coca in Bolivien somit legal (und von der Verfassung geschützt). Illegal sind Kokain-Fabriken und Exporte. Trotzdem hat sich das Land in den letzten Jahren durch die Reorganisation der südamerikanischen Drogenrouten zu einem „strategischen Hub“ des Kokain-Handels entwickelt. Der bolivianische Staat ist im Kampf gegen den internationalen Kokain-Handel und die Produktionsstätten im eigenen Land durchaus aktiv und beschlagnahmt jährlich Tonnen von Kokain. Die hohen Gewinnmargen und die sozial prekäre Lage von Kindern und Jugendlichen, die früh zu Drogenhelfern werden, begünstigen jedoch einen anhaltend hohen Drogenhandel in den industrialisierten Norden.

Solange in Regionen wie Europa und Ländern wie Deutschland der Kokain-Konsum anhält, solange wird sich an der illegalen Drogenproduktion und ihrem Umfeld von Gewalt und Ausbeutung nichts ändern. Das Problem sind demnach nicht die Bauern, die den inländischen Bedarf an Coca-Blättern befriedigen, sondern die Kokain-Konsument*innen, die mit ihrer Nachfrage die illegale Kokain-Produktion befördern…

In der indigenen Tradition dient der Coca-Konsum bis heute nicht einer Dröhnung im westlichen Sinne, sondern als Vermittler zwischen zwei Welten. In den Anden-Regionen ist der Konsum um Allerheiligen am höchsten, wenn der Toten gedacht wird. Zugleich ist das  Kauen und Anbieten von Coca-Blättern ein sozialer Vorgang. Der „Kintu“ ist ein Moment des Innehaltens , in welchem ohne Eile 3 bis 4 Coca-Blätter ausgewählt werden. Man tritt mit Mama Coca in Verbindung, indem man begrüßend und dankend gegen die Blätter pustet und einen Wunsch geäußert. „Coca ist ein starkes Symbol der indigenen Identität (…) der schlimmste Feind der Indigenen ist der Drogenhandel“ (Coca-Museum, La Paz).

1 Comment

  1. […] Dauererscheinung in Bolivien, in der Regel in Form zerkauter Coca-Blätter. Hierzu gibt’s ein gesonderten Blog-Beitrag […]

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