[Évora, Portugal] Wer nach Évora kommt (und es kommen viele im Rahmen einer Tagestour von Lissabon aus), hat in der Regel die sog. „Knochenkapelle“ (Capela dos Osos) auf dem Programm. Hier wurden im 16. Jahrhundert durch die Franziskaner die Knochen aus fünf Friedhöfen zur Innen-„Gestaltung“ einer Kapelle genutzt. Der didaktisch zweifelhafte Schockmoment (der aber sehr der Aufmerksamkeitslogik heutiger sozialen Medien ähnelt) war offenbar darauf ausgerichtet, dass der Betrachter und die Betrachterin einen Sinn für die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens entwickelten. Die Knochen und Schädel von etwa 5.000 Skeletten sind hier im Geiste der Gegenreformation (es gibt europaweit eine ganze Reihe vergleichbarer Gruselkapellen) aufgeschichtet und sollen wohl den Glauben stärken. Zur Sicherheit wurde die Botschaft in einfacher Sprache über das Portal geschlagen: „Nós ossos que aqui estamos pelos vossos esperamos“ („Wir Knochen, die wir hier sind, warten auf die euren“).
1845 hat der damalige Prior der Kapelle noch ein Sonett nachgelegt, das den Reisenden zum Innehalten und zum Nachdenken über den Tod auffordert. Die Schlusszeile lautet „Quanto mais parares, mais adiantas“ (Je mehr Du pausierst, desto weiter wirst Du kommen„).
Das ist nur deshalb von Interesse, weil sich einige hundert Meter weiter ein römischer Grabstein aus dem 1. oder 2. Jahrhundert n. Chr. befindet. Die (sehr) wenigen Besucher*innen, die das Untergeschoss des Museum Frei Manuel do Cenáculo in Évora aufsuchen, finden dort eine bewegende Inschrift der anderen Art: Auch hier wird der vorbeiziehende Mensch zum Innehalten aufgefordert. Anlass ist der frühe Tod der Nice, die nur 20 Jahre alt wurde. Über knapp 2.000 Jahre hinweg spricht uns der Stein direkt an (hier in der Übersetzung des Museums): „Whoever you are, wanderer, who passes by me, buried in this place, if you pity me – after you have read that I died on my twentieth year of life – and if my rest moves you, I shall pray that you, when weary, may have a sweeter rest, a longer life and a slow aging in this life, which I was not permittet to enjoy. Crying will not suit you. Why won’t you enjoy the years? Inaco a Io ordered this to me. Go, it’s preferable; hast thee, now that you have read what you had to read. Go. Nice lived twenty years„.
Für mich ist das eine des schönsten Liebeserklärungen an eine junge Frau und an das Leben. Die Worte haben auch nach 2000 Jahren nicht an Kraft verloren. Und gleichzeitig kontrastieren sie in ihrer positiven Mitmenschlichkeit und mit ihrem Lebensbezug die strenge katholische Botschaft aus der Knochenkapelle. Wie so oft dürfte beide Ansätze aber jeweils einen wahren Kern haben, deren Synthese lauten könnte: Lebe und genieße, aber tue dies in Verantwortung und mit dem notwendigen Maß an Ehrfurcht vor dem zeitlich begrenzten Leben!