[Andalusien] Im Süden Spaniens treffen (jeweils unweit unseres Standorts in Conil de la Frontera) zwei historische Epochen aufeinander, die auf eine gewisse Weise bis in die Moderne wirken: der Kampf gegen den Islam und die „Entdeckung“ Amerikas. In einer ungeheuren Kulmination der Entwicklungen berühren sich diese damaligen „Zeitenwenden“ exakt 1492 im Süden Spaniens. Die sog. „katholischen Könige“ Isabel von Kastilien und ihr Mann Ferdinand von Aragón konnten 1492 mit dem Fall Granadas sowohl von der Beendigung der „Reconquista“ (Beendigung der maurischen Herrschaft über Territorien auf der iberischen Halbinsel) als auch von der „Entdeckung“ Amerikas durch Kolumbus im Dezember 1492 profitieren. Seine von den katholischen Königen finanzierten Entdeckungsfahrten starteten erst in Huelva, die zweite Expedition von Cadiz in Andalusien. Für die betroffenen Minderheiten (Muslime und Juden in Spanien sowie die indigenen Völker Lateinamerikas) markiert das Jahr zwar eher den Beginn vielfältiger Katastrophen (von der Vertreibung über Sklaverei und Ausbeutung bis zum Genozid), für die europäische „Moderne“ sind die ideologischen Folgen des Durchmarschs und der Festigung der katholischen Kirche auf der einen Seite sowie die materiellen Folgen (aus europäischer Sicht: exorbitanten Gewinne) der Ausbeutung des süd- und mittelamerikanischen Kontinents auf der anderen Seite kaum zu überschätzen.
Diese territoriale Expansion des frisch geeinten Spaniens sowie die ideengeschichtlich bedeutsame Kenntnis neuer Erdteile jenseits der westlichen Küsten Spaniens manifestieren sich bis heute im Wappen der konstitutionellen Monarchie Spaniens. Das Wappen wird von den Säulen des Herkules (Herakles) eingefasst, die für Afrika (konkret: der Berg Dschebel Musa bzw. Monte Hacho in Marokko) und Europa (konkret: der Felsen von Gibraltar vor Spanien) stehen. Die Säulen markierten symbolisch das Ende der in der Antike bekannten Welt. Bis zur Entdeckung Amerikas galt der Spruch „non plus ultra“ („Nicht mehr weiter“) des göttlichen Herakles, nach der Entdeckung Amerikas strich der irdische Karl V. (der Enkel Ferdinands von Argagón) schlicht das „non“ und beanspruchte damit in imperialer Manier alles darüber hinaus. Das Spruchband des Wappens lautet seitdem „darüber hinaus/ noch weiter/ immer weiter“ („plus ultra“). Der imperiale Anspruch wird bis heute in Form der sog. „imperialen Krone“ aufrechterhalten, die als zweite Krone auf der rechten Säule thront (im Unterschied und Ergänzung zur spanischen Königskrone). Im Wappenschild selbst finden sich die vier damaligen Königreiche Kastilien (Burg), Leon (Löwe), Aragon (Pfähle) und Navarra (Ketten). Etwas verschämt wurde das fünfte Wappenfeld ganz unten eingefügt: Es ist das ehemalige Königreich Granada (Granatapfel), letztlich das heutige Andalusien.
Zur Selbstaufwertung hat sich Andalusien 1982 ein Wappen ganz eigener Ästhetik gegeben, das vollständig auf Herkules Bezug nimmt und ihn als Gründungsvater stilisiert: zwischen den Säulen des Herkules steht der Halbgott selbst, von zwei goldenen Löwen eingefasst, der eine geduckt in Angriffshaltung (wem gilt hier der Angriff?), der andere aufrecht in Abwehrhaltung (von wem geht hier die Bedrohung aus?). Im Bogen über den Säulen findet sich etwas versteckt der Spruch „Herrscher Herkules der Gründer“), im Spruchband unterhalb des Helden der bescheidene Text „ANDALUCÍA POR SÍ, PARA ESPAÑA Y LA HUMANIDAD“ („Andalusien für sich selbst, für Spanien und für die Menschheit“). Für die Kenner*innen sei erwähnt, dass das Ganze aus heraldischer Sicht kein Wappen darstellt, sondern ein Emblem; womit Andalusien die einzige autonome Region ohne eigenes Wappen ist …
Bei so viel Herakles im spanischen Wappen und andalusischen Emblem ist es kein Wunder, dass eine Eilmeldung Ende 2021 mit besonderem Interesse in Spanien aufgenommen wurde: „Archäologen der Uni Sevilla wollen bei Cádiz eine Unterwasserstadt mit dem sagenhaften antiken Tempel gefunden haben. Doch der Beweis, dass es jener des Herkules ist, steht noch aus und die Quellenlage ist kryptisch. (…)“ [Costanachrichten.com]. Das Ganze spielt sich unweit unseres Standorts im andalusischen Dörfchen Conil ab, wir halten das deutsche Publikum über die weiterhin kryptische Entwicklung gerne auf dem Laufenden. In den letzten drei Jahren war es allerdings eher ruhig um Herkules und seinen Tempel. Das ist wahrscheinlich auch besser so, denn wenn der Gute im 21. Jahrhundert wieder ausgegraben werden sollte, dann dürfte der ehemalige Halbgott sich wundern, wie die irdischen Sprösslinge seine antike Mahnung der Selbstbeschränkung „non plus ultra!“ missachtet haben und was sie dann aus dem „plus ultra“ gemacht haben. Wahrscheinlich ist es für alle Beteiligten besser, dass heute wie ehedem nur seine beiden Säulen stoisch auf der Süd- und Nordseite der Straße von Gibraltar stehen und ungerührt auf das entgrenzte Agieren der vorbeihetzenden Menschheit herabschauen.
Noch ein „Funfact“ zum Abschluss: Die Säulen des Herkules haben es über die Zeit auch in die Brieftaschen vieler Menschen geschafft. Es gibt historische Lesarten, die besagen, dass das heute so populäre und nachgefragte Dollarzeichen eigentlich ein spanisches Pesozeichen ist und die beiden Säulen und das Spruchband des spanischen Wappens symbolisiert. Es fand seit den 1770er-Jahren von den Briten zur Bezeichnung der spanischen Währung (insb. in Mexiko) Verwendung. Mit der Einführung der US-amerikanischen Währung in den 1780er- und 1790er-Jahren wurde das Symbol für den US-Dollar übernommen (aber bis heute nicht exklusiv, es steht auch für andere Währungen wie z.B. den kubanischen Peso). Dass die Säulen des Herakles mit ihrem warnenden Sinn der Selbstbeschränkung ausgerechnet auf den US-Dollar-Noten weltweit Verbreitung finden, entbehrt nicht einer Portion Ironie …