Es ist Zeit für Santiago. Wir sind jetzt schon länger in Galizien als der Standard-Pilger und können bestätigen, dass der Nationalheilige Spaniens allgegenwärtig ist. Die Pilger und bunte Muschelzeichen an den Pilgerwegen sind eine Erscheinungsform, die Jakobs-Muschel an Stränden (wie etwa dem Playa de Vino) oder in Bars als profane Aschenbecher eine andere. Typisch auch das Santiago-Kreuz, wie es uns auf unserer Halbinsel im Ermelo-Gebirge in Form des „Cruz de Ermelo“ auf einer Wanderung begegnet ist (siehe unten). Die Tatsache, dass das Kreuz eher an ein Schwert erinnert, ist kein Zufall. Der arme Jakobus der Ältere wurde viele Jahrhunderte nach seinem Tod von Kirche und Staat ohne sein Zutun ideologisch und militärisch instrumentalisiert und als regelmäßiger Lieferant wundersamer Kriegswendungen (im Sinne der christlichen Eroberer) genutzt. Obwohl es zu seiner eigenen Lebenszeit keinen einzigen Mauren auf der Welt gab und es eher die Christen waren, die mit Verfolg zu rechnen hatten (er selbst wurde auf Befehlt Herodes 44 n.Chr. enthauptet), wurde er 800 Jahre später Schutzpatron gegen die „Ungläubigen“ und erhielt den zweifelhaften Ehrentitel „Maurentöter“ („Santiago Matamoros“).
Zu Lebenszeiten missionierte er (angeblich wenig erfolgreich) in Palästina (verbrieft) bzw. im heutigen Galizien (weniger verbrieft). In der spanischen Variante durfte sein Leichnam nicht beerdigt werden und wurde von seinen Jüngern in ein Steinsarg und dieser in ein einfaches Boot gelegt, das durch die Strömung auf wundersame Weise (von Palästina!) in sieben Tagen (!) an die Küste Galiciens (konkret in den Hafen der römischen Provinzstadt Iria Flavia unweit des heutigen Santiago de Compostela) gespült wurde. Dort müssen die Jünger erwartungsvoll am Hafenkai gestanden haben, denn die spanische Legende geht von einer anschließenden heimlichen Grablege in einem Wald aus.
Nach 800 Jahren Ruhe: Auftritt römisch-katholische Kirche und asturische Fürsten, die gerade mit den Mauren („moros“) im Konflikt waren, da diese innerhalb weniger Jahre ab 711 die gesamte spanische Halbinsel erobert hatten. In den entlegenen Berggebieten Asturiens organisierte sich der einzige effektive Widerstand (weniger aus religiösen als auch privaten Gründen … hier mehr) und ab 722 begann mit der aus asturischer Sicht erfolgreichen Schlacht von Covadonga die „Reconquista“, die 800-jährige Rückeroberung Spaniens. Es war daher überaus hilfreich im Kampf gegen die „Ungläubigen“, dass Theodemir, der Bischof von Iria Flavia irgendwann zwischen 818 und 834 durch himmlische Lichtzeichen das vergessene Grab des Heiligen offiziell wiederentdeckte und vom zuständigen Vertreter der weltlichen Macht (hier: König Alfons II. von Asturien) zügig eine Wallfahrtskirche errichtet wurde. Um die Kirche bildete sich ein Dorf, aus dem Dorf eine Stadt (Santiago de Compostela) und aus der Kirche die Kathedrale.
Wie so oft, erschufen Kirche und Staat in produktiver Zusammenarbeit ein wirkmächtiges Narrativ: „Die Kunde vom Fund des Apostelgrabes verbreitete sich mit großer Geschwindigkeit unter den Christen. Die von Asturien aus betriebene Reconquista – die Rückeroberung der von den Mauren besetzten Iberischen Halbinsel durch christliche Heere – bekam zunehmend Unterstützung. Darüber hinaus entwickelte sich durch den nicht endenden Pilgerstrom der Jakobusweg zur wichtigsten Handelsroute Nordspaniens und Santiago de Compostela zu einem bedeutenden Handelszentrum“ (Planet Wissen). Mit dem neuen Jakobs-Kult gab es demnach nur Gewinner (wenn man von der maurischen und später jüdischen Bevölkerung der iberischen Halbinsel absieht). Seit dem 11. Jahrhundert gilt Santiago de Compostela neben Rom und Jerusalem als bedeutsamste Pilgerstätte des Christentums; Papst Alexander III. erklärte Santiago im 12. Jahrhundert schließlich zur Heiligen Stadt (neben Rom und Jerusalem).
Eine wesentliche Funktion dieses Kultes (neben den wirtschaftlichen Erträgen für Kirche und Staat) war die Mobilisierung einer breiten Islamfeindlichkeit, die weit über die militärischen Konflikte der sog. Reconquista hinausgeht und eine Erklärung dafür bieten mag, warum das Misstrauen gegenüber Muslimen und die neuere Islamophobie bis heute gesellschaftlich so tief sitzt. Die rassistische Ikonographie kommt dabei nicht zwingend aus dem Mittelalter, sondern auch aus der Neuzeit: Die Statue des „Maurentöters“ in der Kathedrale von Compostela, die den Heiligen Jakob mit gezücktem Schwert zeigt, wie er über geköpfte Mauren hinwegreitet, ist aus dem 19. Jahrhundert. Nach den islamistischen Anschlägen in den USA 2001 und in Spanien 2004 kam die Frage auf, ob die Darstellung ggf. eine Provokation für Muslime darstellen könnte und man verbarg erst die geköpften Mauren unter einem Blumenteppich; 2021 entschied man sich dann, die Skulptur von ihrem prominenten Standort in der Kathedrale zu entfernen und etwas dezenter in eine Seitenkapelle zu platzieren. Anders als im Fall der „Judensau“ an der Mutterkirche der Reformation in Wittenberg war die Kirche hier etwas offener im Umgang mit eindeutig diskriminierenden Bauelementen, auch wenn hier wie dort das lokale Museum der bessere Standort wäre.
Dem Wallfahrtsrummel tut das alles keinen Abbruch, 2023 machten sich knapp eine halbe Millionen Menschen auf die Pilgerfahrt nach Santiago, davon angeblich 24.348 deutsche Wandernde (so das Erzbistum Köln); wer die letzten 100 km zu Fuß (oder aber 200 km mit dem Fahrrad) schafft, der erhält im Pilgerbüro die „ersehnte Urkunde“ (Erzbistum). Früher war der Ertrag der Reise etwas größer, denn es wurden einem immerhin alle (!) Sünden erlassen (wenn man die Nacht der Ankunft in der Kathedrale verbrachte und am Tag darauf seine „Opfergaben“ vor Ort ließ).
Und Sünden häuften die Konquistatoren auch nach der Vertreibung von Mauren und Juden aus Spanien an: Bei der Eroberung Amerikas erfand man ganz pragmatisch einen neuen Darstellungstypus, den sogenannten „Santiago Mataindios“, der sich nun gegen die Indigenen stellte, so etwa bei der Belagerung (und späteren Plünderung) der Inka-Stadt Cuzco. Erst als die Indigenen „christianisiert“ waren, wendete sich die Ikonographie wieder dem klassischen Feind zu: den Mauren, „die als Inkarnation ketzerischer Ideen und als Feinde des christlichen Glaubens galten“ (LAI der FU Berlin). Man fragt sich vor diesem Hintergrund schon, warum noch in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts sieben Meter hohe Santiago-Kreuze in Form des Schwertes prominent in die Berge gestellt werden und Menschen mit einer Pilgerreise einem Kult huldigen, der zumindest in den letzten 1000 Jahren einen hohen Diskriminierungsgrad gegenüber Minderheiten und Andersdenkenden aufweist. Tröstlich ist nur, dass der gute Jakob u.a. auch als Patron der Arbeiter*innen und Seeleute dient und gerne „angerufen“ (Erzbistum Köln) wird, wenn besseres Wetter oder weniger Rheuma erwünscht ist. Hoffentlich liegen die Motive der Pilger heute eher in diesen Bereichen und nicht in der Ehrung eines „Maurentöters“.
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