Kultur Sehenswürdigkeiten

#75 | „Typisch“ bolivianisch …

[Bolivien] Es ist mal wieder Zeit für ein paar pauschale Reiseeindrücke. Wir sind in Bolivien geflutet von Eindrücken, die man gar nicht alle im Einzelnen ausführen und vertiefen kann. Wir flüchten uns daher in oberflächliche Beschreibungen, die mit der gebotenen Vorsicht zu verdauen sind …

Die „Uhr des Südens“

Irgendetwas stimmt nicht in diesem Bild …

Seit 2014 laufen die Uhren (zumindest einige offizielle Uhren) in La Paz anders herum. Wer sich die Uhr am Parlament genau anschaut, wird feststellen, dass das Ziffernblatt spiegelverkehrt ist und wer sich einige Minuten Zeit nimmt, wird feststellen, dass die Zeiger „gegen den Uhrzeigersinn“ laufen. Die Begründung der Regierung lautete damals, dass die Bolivianer ihre eigenen Traditionen wieder schätzen lernen sollten und etablierte Normen und Denkweisen (des Westens) hinterfragen sollten. Der Außenminister stellte damals die Frage in den Raum: „Who says that the clock always has to turn one way? Why do we always have to obey? Why can’t we be creative?“ (BBC). Er taufte die Uhr „Uhr des Südens“ und schenkte damals den Teilnehmern des G77-Gipfels in Bolivien entsprechend angepasste „de-koloniale“ Armbanduhren (npr). Ob die Uhr des Südens inzwischen „typisch bolivianisch“ ist, bleibt offen. Der Versuch, einen de-kolonialen Akzent zu setzen geht aber als typisch bolivianisch durch …

Der „Bombín“ (Bolivianischer Bowler-Hut)

Es gibt ihn wirklich und nicht nur auf dem Titelbild bolivianischer Reiseführer. Dieser eigenartige Hut wird von den indigenen Frauen viel und stolz getragen. Es gibt ihn in unzählbaren Varianten und wir haben uns erklären lassen, dass die Frauen mit der Kopfbedeckung wie mit der Haartracht und der typischen Kleidung („Pollera“: Überrock mit bis zu 10 Unterröcken) und entsprechenden Farbkombinationen auch ihre soziale Stellung, ethnische Herkunft und ihren Reichtum ausdrücken. Je nach Stellung kann die Kleindung mehrere hundert Dollar wert sein, daher sollte man mit voreiligen Urteilen vorsichtig sein und genauer hinsehen.

Warum ausgerechnet die bolivianischen Frauen diese ur-britische Kopfbedeckung tragen, ist Gegenstand vieler Geschichten. Plausibel klingt die Geschichte einer fehlerhaften Lieferung für britische Eisenbahnarbeiter, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Bolivien stationiert waren. Die Hüte waren viel zu klein für die Männer und mussten neu vermarktet werden. Mit etwas Glück konnten die britischen Lieferanten die bolivianischen Frauen vom Trend zum Bowler überzeugen … mehr zum Hintergrund findet sich hier.

Einheit in der Vielfalt: der Plurinationale Staat Bolivien

„Wiphala“-Emblem Boliviens

Ein der Auffälligkeiten Boliviens ist der viel höhere Anteil indigender Menschen. Im Gegensatz zu Chile und Argentinien sind über 50% der hier lebenden Menschen indigen (insbesondere Quechua und Aymara), weitere gut 30% gelten als sog. „Mestizen“, haben also sowohl indigene als auch europäische Vorfahren. Die Besonderheit in Bolivien ist die Anerkennung von offiziell 36 verschiedenen Ethnien und die seit 2009 geltende Selbstdefinition als „plurinationaler“ Staat, dessen nationale Einheit sich aus vielen Nationen zusammensetzt, die ihre Eigenständigkeit wechselseitig anerkennen. Ein Modell für die Welt? Dieser plurinationale Ansatz spiegelt sich in einer der drei offiziellen Flaggen Boliviens wieder: die sogenannte „Wiphala“ kommt aus der Tradition der Inka und ist der Regenbogenfahne sehr ähnlich (aber viel älter). Sie besteht aus 49 Quadraten in sieben Farben und wurde als Symbol der Vielfalt der Nationalflagge als Emblem gleichgestellt.

Wie man vor den offiziellen Gebäuden von La Paz erkennen kann, weht neben der Nationalflagge und der „Wiphala“ noch eine dritte Flagge, die das bolivianische Trauma verkörpert: der Verlust des Meereszugangs im „Pazifik-Krieg“ mit Chile 1879 – 1884. Mit dem Verlust des Departements Litoral ging damals der Zugang zum Meer (und den Erzen der Region) verloren. Heute erinnert die Flagge mit 9 goldenen Sternen (für die 9 bolivianischen Provinzen) und dem isolierten 10. Stern auf blauen (Meer!) Grund an den schmachvollen Verlust und den volkswirtschaftlichen Schaden vergangener Zeiten. Man findet – ähnlich wie in Argentinien in Bezug auf die Malvinas – gelegentlich Hinweise auf den Anspruch auf’s Meer im öffentlichen Raum. Der Mehrheit der Bevölkerung im plurinationalen Staat dürfte diese Frage jedoch herzlich egal sein …

Pachamama, wak’a und der Glaube

Bolivien gilt als stramm katholisches Land, gut 70% der Bolivianer bekennen sich zum katholischen Glauben, der mit den Konquistadoren um 1500 herum mit der Unterwerfung frei Haus ins Land kam. Gleichzeitig ist es weder den Spaniern noch der katholischen Kirche gelungen, alte Gottheiten und Rituale völlig auszumerzen. Im Gegenteil: in den Anden-Regionen gelingt es der indigenen Bevölkerung problemlos, ihre Vorstellung von „Pachamama“ als Mutter Erde mit dem Marienkult in Verbindung und Übereinstimmung zu bringen. Wasser, Erde, Sonne und Mond sind die vier wichtigsten kosmischen Dimensionen, die auf Pachamama zurückgehen und das Leben bestimmen. Bereits in Potosí war Pachamama im öffentlichen Raum lebendig, auch in La Paz kann man problemlos Orte identifizieren, an denen man Mutter Erde gedenkt und opfert. Die Opferstellen sind sog. „wak’a“ und wenn man die Augen offen hält, dann kann man sie überall in Bolivien entdecken.

In La Paz finden sich neben dem berühmten „Hexenmarkt“ („El Mercado de las Brujas“), auf dem die Utensilien für Opferungen und Beschwörungen an die lokale Bevölkerung verkauft werden, auch Hütten kosmischer Dienstleister*innen, die die Verbindung zu „Pachmama“, dem Schicksal oder auch den Verstorbenen herstellen. Hier brennen Feuer vor der Hütte und für ein paar Bolivianos zieht man sich mit dem/der Beschwörer*in in die Hütte zurück, schildert sein Anliegen bzw. Problem (alles außer Probleme der Liebe wird akzeptiert) und dann agiert der/die Beschwörer*in mehr oder weniger erfolgreich durch Opferung von Lamaföten, Verbrennung von geheimnisvollen Kräutern und bedeutungsvollen Gemurmel … unser Guide in La Paz schwört, dass bei ihm eine schwere Krankheit, die nicht in der Klinik kuriert werden konnte, durch ein solches Ritual in den Griff zu bekommen war. Wie gesagt: bis heute spielen die „alten Götter“ aus der Inka-Zeit noch eine große Rolle in Bolivien.

Alles nach Männern benannt

Auffällig ist schließlich auch die Tendenz in Bolivien, Städte und Provinzen nach vermeintlichen Heroen der Vergangenheit zu benennen. Es fängt mit dem Staatsnamen (Bolivien nach dem Unabhängigkeitskämpfer Simón Bolívar), es geht weiter mit den Provinzen (die neuen Departementos sind aus irgendeinem Grund ausgenommen) und betrifft viele Städtenamen. Prominente (immer männlichen) Namensgeber sind beispielsweise Antonio José de Sucre (Name der Hauptstadt), Manuael Ascencio Padilla (Provinzhauptstadt Padilla), Alonso de Ibáñez (Namensgeber Provinz), Bernardino Bilbao Rioja (Namensgeber Provinz) oder auch Tomás Frías Ametller (Provinz um Potosí herum). Letzterer ist ein gutes Beispiel für die Ehrung weißer, europäischstämmiger Mitglieder der kleinen bolivianischen Oberschicht, die u.a. auch die Präsidentschaften Boliviens im 19. Jahrhundert bestritten haben. Der Oligarch und Präsident Aniceto Arce ist ein weiteres Beispiel dieser Art (Namensgeber Provinz). Als Deutscher hat man Probleme, sich ein Bundesland „Hasso Plattner-Ländle“ (statt Baden-Württemberg), „Helmut Kohl-Provinz“ (statt Rheinland-Pfalz) oder „Michael-Müller-Stadt“ (statt Berlin) vorzustellen … andere Länder, andere (post-koloniale) Sitten …

Weitere „typische“ Dinge Boliviens: Coca, Größe & Lebensfreude

Natürlich ist die Coca-Pflanze eine Dauererscheinung in Bolivien, in der Regel in Form zerkauter Coca-Blätter. Hierzu gibt’s ein gesonderten Blog-Beitrag (#77).

Eine weitere Auffälligkeit ist die Körpergröße der Bolivianer*innen, die insbesondere im Hochland auffällig klein sind. Die Durchschnittsgröße liegt bei Frauen um die 150 cm, was sich bei den Eingängen zu Häusern, Klos, Bussen etc. bemerkbar macht. Genau genommen ist diese Feststellung als solche aber wenig interessant, weil die geringe Körpergröße Ausdruck einer jahrhundertelangen Unterernährung ist. „Typisch“ ist hier also eher die nach wie vor vorhandene Armut im Land (es ist das „ärmste Land“ Südamerikas in der Logik des Bruttoinlandsprodukts).

Um mit etwas Positiven zu enden: „Typisch“ ist auch die Lust an Farben, an Musik und am Tanz. Auch hierzu gibt es zur Lebensfreude der Bolivianer*innen einen gesonderten Blog-Beitrag (#76).