[Pontevedra] Erstmals wachen wir ohne jede Verpflichtung auf und müssen bzw. dürfen den Alltag völlig frei gestalten. Das ist schwieriger als es klingt, da im Hintergrund die „Angst“ mitschwingt, wertvolle Zeit zu verschwenden. Erst langsam sickert es durch, dass wir tatsächlich von einer Ressource für eine Weile mehr als genug haben: Zeit. So verbringen wir einen Teil der Zeit mit der Überlegung, was man alles mit seiner Zeit anfangen kann. Es sind viele „Projekte“ mitgekommen, für die im Berliner Alltag kein Raum war: Ein riesiger Beutel mit Kleidungsstücken, die über die Jahre darauf warten gestopft zu werden. Sechs (!) große Kartons gefüllt mit Fotos aus den Jahren ab 1994, die darauf warten, sortiert und in analoge Fotobücher (gibt’s die eigentlich noch?) eingeklebt zu werden. Bücher, die sich jahrelang neben dem Bett aufgestalpelt haben und darauf warten, gelesen zu werden … usw. Wir merken, dass es gar nicht so leicht ist, mit dieser neuen Freiheit der Zeitsouveränität umzugehen. Wir werden noch etwas üben müssen, bis sich ein neuer Alltag ergibt (oder braucht’s den gar nicht?).
Erst einmal lassen wir all die Wartenden noch etwas länger warten und brechen erstmals nach Pontevedra auf. Da wir im Örtchen Bueu auf der Halbinsel Morrazo siedeln, brauchen wir mit dem Auto eine gute halbe Stunde, mit dem öffentlichen Bus etwa eine Stunde in die Stadt. Pontevedra ist mit gut 80.000 Einwohnern Provinzhauptstadt und – kaum der Erwähnung wert – eine römische Gründung. Die römische „Pontis Veteris“ (Alte Brücke) über den Fluss Lérez ist Ursprung des Namens. Ansonsten ist nicht viel Römisches zu sehen; überhaupt ist die Stadt wenig spektakulär in einem touristischen Sinne. Man hält sich dennoch gerne in ihrer gut erhaltenen Altstadt auf, was an der Verkehrsberuhigung (seit 1999 ist die gesamte historische Altstadt autofrei!), den vielen Bars, Cafes und Restaurants sowie dem trubeligen Innenstadtleben liegt. Um 14 Uhr schwappt zudem die in Schuluniformen gekleidete Jugend aus den Schulen wie eine Tsunami-Welle lautstark in die Stadt.
Unser eigentliches Ziel ist eine Sprachschule, die wir erst in Pontevedra vermuteten, die dann aber auf der Karte 40 Kilometer weiter nordwestlich in O Grove auftaucht, obwohl die Schule mit „Pontevedra“ wirbt, was sich offenbar aber auf die Provinz bezieht. Die weitere Suche nach Sprachschulen erweist sich als schwierig, die Nachfrage nach Spanisch für Ausländer ballt sich offenbar im Frühherbst nicht in Pontevedras. Mit etwas Glück finden wir Christina, die eine Art Sprachschule im ersten Obergeschoss eines gesichtslosen Bürokomplexes betreibt. Der letzte Facebook-Eintrag datiert auf 2019, ein Schild war weder am Gebäude noch an der Klingelanlage zu finden, aber am Telefon antwortete eine freundliche Stimme. Wie vermutet, ist Christina Eigentümerin, Geschäftsführung, Rezeption und Lehrkraft zugleich, aber da sie Spanisch spricht, sich wie eine Sprachschule verhält und unsere einzige Option ist, kommen wir ins Geschäft: wir vereinbaren für vier Wochen Einzelunterricht an drei Tagen in der Woche. Es gibt kein Entrinnen mehr … jetzt hießt es üben, üben, üben.
Den Rest des Tages verbringen wir auf der nördlichen Halbinsel Sanxenxo (weite, feine Sandstrände) und durchfahren dabei das sehenswerte und sehr idyllische Dorf Combarro. In diesem Fischerdorf gibt es selbst für regionale Verhältnisse sehr viele Hórreos, deutlich kleiner als in Asturien und eher von einem sargförmigen Charakter. Die Bauten stehen in der Nähe der Häuser und sehen wirklich so aus, als lagere man dort die verstorbenen Großeltern. Die Hórreos stehen offenbar unter Denkmalschutz, da sogar im örtlichen Einkaufszentrum ein Exemplar etwas verloren auf dem Parkplatz herumsteht.
Noch ein Wort zu den Palmen, die hier in der Region ganz nebensächlich in Stadt und Land herumstehen: Das sind wirklich eigenartige Bäume, die eine ungeheure Höhe erreichen. Sie wirken in ihrer schmalen Größe sehr fragil und man ist dankbar, dass da oben in 40 Metern Höhe keine Kokosnüsse heranreifen, die sich irgendwann auf den Weg zur Erde machen.
Der andere regional verbreitete Baum ist die Esskastanie. Lange Zeit war die Kastanie das Grundnahrungsmittel in der Region (bevor die Kartoffel die stärkereiche Frucht als Nahrungsmittel ablöste). Naheliegend, dass unsere Gastgeberin uns zur Begrüßung neben Tomaten, Trauben und Zitronen ganz selbstverständlich einen Korb Esskastanien in die Küche legte. Natürlich alles aus dem eigenen Garten.