[San Pedro la Laguna] Die Städte (oder besser Dörfer) um den Lago de Atitlán herum schmücken sich – bis auf ganz wenige liederliche Ausnahmen – mit Heiligen im spanischen Namen („San …“). Das hat den sicherlich angenehmen Nebeneffekt, dass je nach Namenstag eigentlich das ganze Jahr über guten Gewissens gefeiert werden kann. Uns hat es für ein paar Wochen nach San Pedro verschlagen, zwischen San Juan und Santiago und gegenüber von San Pablo und San Marcos gelegen. Wir hatten die Ehre, vor und nach dem Namenstag von Sankt Peter, dem 29. Juni des Jahres, in San Pedro zu sein. Schon vorher wurden wir vor zwei „lauten“ Wochen gewarnt und laut waren die Böller, die Musik und Aufbauten für eine Art Kirmes, die mit Gerätschaften aus den frühen 50er-Jahren ansatzweise die Atmosphäre eines Volksfestes erzeugten. Im örtlichen Bio-Laden wurden wir vom US-Expat gewarnt: „Nichts benutzen, was Dich vom Boden hebt. Auf keinen Fall die Achterbahn!“. Die Achterbahn hatte mein deutsches TÜV-geprüftes Fachauge aber bereits vorher von selbst als No-go identifiziert. Weniger wegen des Alters und der ausgeblichenen Farben der trüben Bahn, vielmehr wegen der gestapelten und grob behauenen Holzbretter unterschiedlicher Güte, auf denen die rostige Metallkonstruktion abgestützt war.

Aber der Höhepunkt, so wurde uns geheimnisvoll angedeutet, seien nicht die Aufbauten, sondern das sei dieses Jahr der „Palo valador“, den müssten wir uns am 28. Juni um 10 Uhr anschauen. Brav wie die Schafe trotteten wir also am Samstag, den 28. Juni um 10 Uhr zum „Festplatz“, der aus einer Baulücke bestand, deren matschiger Boden grob planiert worden war. In der Mitte ragte ein über 20 Meter hoher Baumstamm empor, der einigermaßen gerade gewachsen und von seinen Ästen befreit worden war. Oben hatte man eine eigenartige Konstruktion angebracht, die wie ein Kranz auf der Spitze des Stammes auflag und von der zwei lange Seile herabhingen. Um 10 Uhr hingen zwar etwas mehr Menschen als sonst in der Straße vor dem Bauplatz herum und einige alte Herren unterhielten sich wichtig neben dem Stamm, aber ein Programm war offenbar noch länger nicht in Sicht. Auf Nachfrage wurde uns 11 Uhr angedeutet, so dass wir Einkäufe erledigen konnten und entspannt um 11 Uhr wiederkamen. Mehr Leute, ein paar Plastikstühle für eine offenbar erwartete Prominenz standen unter einer Plastikplane mit Bierwerbung, ansonsten keine Akteure, die man mit dem emporragenden Pfahl in Verbindung bringen konnte.


Wir standen uns die Beine in den Bauch, zuverlässig (Regenzeit) fing es zwischendrin an zu regnen, die Menge bewegte sich, aber die Plätze unter der Plastikplane waren beschränkt. Immerhin lief von Knistern unterbrochene Musik unbekannter Herkunft. Dann, es ging auf 12 Uhr zu, tat sich etwas an der Baustelleneinfahrt und ein Tross von Stadtprominenz kam um die Ecke. Vorneweg liefen vermutlich die Hauptakteure des Spektakels, fünf in bunten Kostümen gekleidete Männer, alle fröhlich winkend auf den jetzt wirklich matschigen Platz marschierend. Zwischendrin zwei Damen mit kronenartigen Dingen auf dem Kopf und wichtig dreinblickende Männer. Man hatte kurz vorher weitere 20 – 30 weiße Plastikstühle angeschleppt (als wäre der Besuch völlig überraschend und kurzfristig angekündigt worden), so konnte die Prominenz in der spontan entstandenen ersten Reihe mit würdevollen Blicken unter dem Plastikgehänge Platz nehmen. Die Musik klimperte weiter vor sich hin, die verkleideten Männer standen etwas unschlüssig um den Pfahl herum. Einige wippten fern des Taktes der Musik vor sich hin … das Ganze wirkt unheimlich ungeplant und so, als hätten sich hier alle Beteiligten – inklusive der Zuschauenden – verlaufen und wollten es jetzt nicht zugeben.




Aber dann gab es die erste von einigen quietschenden Rückkoppelungen und der einer der Promis redete ins Mikrophon. Dem war nicht nur wegen der technischen Probleme schwer zu folgen, sondern auch, weil das Ganze in drei Sprachen gesagt werden musste. Alles wurde einmal auf Spanisch und dann in zwei Maja-Sprachen gesagt. Wer deutsche Festreden länglich findet, der war noch nicht in San Pedro … es folgten Gebete (die Grazien mit den Kronen erhoben sich und zogen die gesamte erste Reihe mit) und die fünf Burschen in der Mitte des Platzes begannen sich vor dem Pfahl in den Matsch zu knien und zu beten. Jede der vier Himmelsrichtungen wurde auf diese Weise bedacht und am Ende wurde der Inhalt einer Cola-Dose wie Weihwasser über den Stamm ausgeleert (und die leere Dose achtlos in den Matsch geschmissen). An dieser Stelle kamen wir starke Zweifel, ob das Ganze ernst gemeint war oder eine besondere Form der Parodie darstellt.
Der erste Akteur kletterte jetzt tatsächlich den Pfahl hoch und begann da oben an der Kronen-Konstruktion zu hantieren, während unten ein länglicher Vortrag über die Bedeutung des Baumes, der jetzt ein Pfahl war, gesprochen wurde: in drei Sprachen ging es um die Verbindung von Erde und Himmel, Mensch und Natur, oben und unten etc. Keiner hörte zu, alle schauten nach oben und als das genauso öde war, zeigte man sich gegenseitig die Drohnen, von denen mehr als ein halbes Dutzend um den Pfahl flogen. Der Erzähler erzählte weiterhin zwischen den Rückkoppelungen munter vor sich hin, als zwei der Männer in Kostüm den Pfahl erstiegen und sich dort oben in – wie wir inzwischen in drei Sprachen erfahren hatten: 22 Metern Höhe – ein Stelldichein zu dritt gaben. Zwei stiegen in die Schlaufen, die am Ende der Seile gebildet worden waren, der Dritte setzte sich rittlings oben auf das sehr fragil wirkende Kronenkonstrukt. Sicherungsseile oder Auffangnetze waren hier weder in Sicht noch überhaupt angedacht, der deutsche TÜV und jede Arbeitsschutzbehörde hätte ihre Freude gehabt.


Der Erzähler redete immer noch als sich plötzlich da oben an der Pfahlspitze ein Bewegung entwickelte: die beiden Burschen an den Seilen hatten sich – vom Erzähler und dem meisten Zuschauern unbemerkt – vom Pahl abgestoßen und durch die Art, wie das Seil um den Stamm gewickelt war, drehten sie sich langsam ab. Sie hielten sich wechselseitig im Gleichgewicht und der reitende Freund oben auf der Krone stellte sicher, dass das Ganze einigermaßen im Lot war. Ohne jede Ankündigung oder ohne Aufbau eines Spannungsbogens war das Spektakel, auf das alle hier über zwei Stunden gewartet hatten, in die Gänge gekommen und endlich am Ablaufen. Oder besser am Abwickeln, denn das Seil wickelte sich langsam aber sicher ab und damit näherten sich die beiden Akteure langsam aber sicher dem Boden. Nach etwa zwei Minuten war der „Flug“ vorbei, es wurde geklatscht und dann ging man relativ schnell wieder auseinander. Selten so etwas Unspektakuläres gesehen, die Zuschauer waren aber alle gut drauf und zogen geruhsam und entspannt zurück ins Zentrum. Bei mir blieb eher ein Gefühl verschwendeter Lebenszeit zurück, ungefähr das Gefühl, das man nach zweieinhalb Stunden Wartezeit auf einen verspäteten Zug hat, der dann ganz ausfällt. Erst später erklärte sich ein Teil des Unspektakulären und der Eindruck des Unkoordinierten: mit dem diesjährigen „palo valador“ hatte man in San Pedro erstmals nach 80 Jahren wieder den Versuch einer Wiederbelebung alter Traditionen (eines „baile ancestral“/ eines Ahnentanzes) unternommen. Wir hatten der lokalen Premiere nach fast drei Generationen beiwohnen dürfen. Man darf also für die Zukunft hoffen …