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#80 | Cusco – „Der Nabel der Welt“

[Cusco] Vom Titicaca-See ging es mit dem Nachtbus über 12 Stunden nach Cusco, dem Zentrum des alten Inka-Reiches. Die Staatsgrenze nach Peru muss man zu Fuß überqueren und obwohl alles sowohl auf der bolivianischen als auch peruanischen Seite recht rudimentär aussieht, lässt man seine gesamten Daten an der Grenze zurück. Digitales Einchecken ist Pflicht, Fingerabdruck & Iris-Scan Standard und den strengen Blick der Grenzbeamten gibt’s kostenlos drauf. Die moderne Überwachungstechnologie steht im krassen Gegensatz zu ungepflasterten Straßen, fehlenden Gehwegen, kaputten Häuserblocks und schäbigen Verkaufsständen …

Allerdings gab es eine Kontrollstation an ziemlich genau demselben Ort bereits zu Inka-Zeiten: der einzige Zugang zur Halbinsel von Copacabana im Titicacasee war durch eine Mauer von Ufer zu Ufer am schmalsten Punkt der Landverbindung (heute: Yunguyo) abgeschirmt und die Pilgerreisenden Richtung Isla del Sol mussten sich erklären bzw. ausweisen. Vermutlich mit weniger Technik, aber unter ebenso strengen Blicken der Obrigkeit.

Anders als zu Inka-Zeiten konnten wir die Strecke zwischen Copacabana und Cusco nicht in 6 Tagen zu Fuß, sondern in einer Nacht per Bus hinter uns bringen. Frühmorgens kamen wir mit Sonnenaufgang in Cusco an. Wir befanden uns auf 3.400 Metern über dem Meeresspiegel und waren fast vollständig von Hügeln umgeben. Die Stadt füllt das gesamte Tal aus und breitet sich mit ihren heute knapp 500.000 Einwohner*innen an allen Hügeln weiter in die Höhe aus. Die eigentliche Altstadt ist erstaunlich klein, sowohl die heute dominierende koloniale Altstadt als auch der Grundriss der alten Inka-Hauptstadt, von deren Bauten nur noch Grundmauern und wenige Bauten und Anlagen bruchstückhaft erhalten sind. Die Konquistadoren zerstörten und überbauten alle Sakralbauten und Paläste.

Von Cusco aus führten die vier großen Verkehrswege in die vier Teile des Reiches: vom heutigen Hauptplatz Plaza Mayor verliefen die Straßen in die vier Himmelsrichtungen (Chinchan Suyu im Norden, Kunti Suyu im Westen, Anti Suyu im Osten und Qulla Suyu im Süden). Die vier Teilprovinzen berührten sich in Cusco, das damit den „Nabel“ der Inka-Welt und des zusammenfassenden Inka-Reichs „Tawantinsuyu“ (Quechua: „Reich aus vier Teilen“) bildete.

Die alte Inka-Stadt Cusco muss im 15. Jahrhundert, ihrer Blütezeit, sehr überschaubar gewesen sein und hauptsächlich als sakrales und administratives Zentrum fungiert haben. Mittelpunkt war wohl der Sonnentempel „Qorikancha“ (Quechua für „Goldhof“), dessen Mauern nach Berichten der Spanier mit Platten aus Gold ausgeschlagen war und in dessen terrassiertem Garten Nachbildungen von Mensch, Tier und Pflanzen in Gold und Silber ausgestellt waren. Heute thront auf dem aus Vulkangestein elegant geschwungenen und fast fugenlos errichteten Mauersockel des Sonnentempels viereckig und trotzig eine gedrungene, schon 1539 fertiggestellte Kirche des Dominikanerordens und befindet sich auf der gesamten Fläche der ehemaligen Inka-Anlage das dazugehörige Kloster. Im Kloster wurden die sehr geradlinig geformten kleineren Tempel (für den Mond, Sterne, Blitz etc.) teilweise als Seitenkapellen in den Kreuzgang integriert (mit christlichen Übermalungen und Umbauten), so dass sie stellenweise fast original erhalten sind. Die gesamte Tempelanlage wirkt erstaunlich klein, gerade auch im Vergleich zu christlichen Kathedralen. Die Anlagen der Inka in Cusco waren aber wohl nicht für die breite Masse zugänglich, eher für den Inka, die Familien der verstorbenen Inka und einen Teil der Oberschicht, so dass die Proportionen überschaubar waren. Das hat die christlichen Eroberer aber nicht an der (fast) vollständigen Beseitigung aller Bauzeugnisse gehindert. Grundsätzlich gilt in Cusco: überall, wo die Inka ein Heiligtum oder einen Palast errichtet hatten, steht heute eine katholische Kirche … es sind viele Kirchen und Klöster geworden. Und falls jemand wissen will, wo das ganze Gold und Silber aus dem Inka-Reich hin ist … ein Blick in die Kirchenräume liefert Hinweise auf die Profiteure der damaligen Plünderungen.

Die Stadt hat trotzdem was, ist sehr lebendig, einigermaßen überschaubar und auf Tourismus ausgerichtet. Man kann fast alle wichtigen Ecken zu Fuß erlaufen, das beliebte Viertel San Blas mit etwas mehr Anstrengung, da es am steilen Berghang auf den ehemaligen (landwirtschaftlichen) Terrassen der Inka angelegt wurde. Abends ist alle Welt in den Straßen der Altstadt und unter den Arkaden und Denkmälern der Plaza Mayor unterwegs, Lichter und die Schaufenter edler (und sehr teurer) Baby-Alpaca-Wollwaren-Geschäfte tauchen die Plaza in eleganten Schein, manche der vielen Kirchen öffnet ihre Tore, in Geschäften, überall auf den Straßen und auf den Märkten wird Ware angepriesen, gehandelt und verkauft, Schulkinder in verschiedenen, mit den dunklen Haaren richtig gut aussehenden Uniformen laufen in fröhlichen Grüppchen durch die Stadt (andere machen ihre Schulaufgaben am Straßenrand hockend, im Abgasgestank, neben ihren Müttern, die dort Teigwaren verkaufen), Englischschüler*innen streben zur angesagten Sprachschule „Maximo Nivel“, man hört viel Blasmusik, Beschäftigte der Restaurants werben um Kunden, ebenso die zahllosen Anbieterinnen von „masages“.

Wir haben hier mehrere Wochen verbracht, teilweise in oben genannter Sprachschule (die auch Spanischunterricht anbietet), teilweise mit Tagestouren ins Heilige Tal, nach Machu Picchu oder mit Wanderungen in die nähere Umgebung. Highlight in der Nachbarschaft ist die gewaltige Sakral-Anlage Saqsaywaman (von Touristen gerne als „Sexy Woman“ bezeichnet), wo die Inka-Steinmetze aus ungeheuer großen Felsblöcken hohe, zickzackförmige (zu Ehren des heiligen Blitzes und der heiligen Schlange) Mauern zusammengefügt haben: ohne jeden Mörtel, passgenau und für die Ewigkeit haltbar (im Gegensatz zur ersten kolonialen Stadt in Cusco haben die Inka-Bauten das schwere Erdbeben im 17. Jhd. schadlos überstanden). Noch heute findet hier wie zu Zeiten der Inka jährlich im Juni das „Inti-Raymi“ – das Fest zu Ehren des Sonnengottes „Inti“ – mit Musik, Tanz, Opferzeremonien, Speis und Trank und Zehntausenden von Besuchern – heute allerdings ohne die Mumien der Vorfahren! – statt. Die (eigentlich katholischen) Peruaner praktizieren Synkretismus!

Schön ist auch ein Ausflug zum kaum noch erhaltenen Mondtempel in einer sanften, grünen Hügellandschaft … generell gilt: die Inka haben sich die schönsten Orte in der Natur herausgesucht und dort ihre Stätten und Siedlungen errichtet, vor allem ihre sanft an Hänge, Täler und Anhöhen angepassten Terrassen für landwirtschaftliche, Stbilisierungs- und Verteidigungszwecke. Auch wenn Cusco selbst zu Inka-Zeit wohl eher ein kleiner Ort war, waren das Tal von Cusco und die umliegenden Ortschaften wohl relativ dicht besiedelt. Was ein Rätsel bleibt, ist die Belagerung von Cusco im Jahre 1536 durch den Inka Manco Cápac II mit bis zu 100.000 indigenen Soldaten vom oberhalb der Stadt liegenden Heiligtum Saqsaywaman aus. Die Spanier hatten Manco Cápac II – einen Bruder des von Pizarro ermordeten Atahualpa – nach der Übernahme des Inkareichs eigentlich als Marionettenherrscher eingesetzt. Er lehnte sich jedoch gegen sie auf; die Spanier hatten sich mit gerade mal 170 Soldaten in der Stadt verschanzt (zuzüglich ca. 1000 indianischen Bündnispartnern vom Volk der Yanaconas). Warum die Inka die Stadt, die wie ein Präsent vor ihnen im Tal lag, nicht einnehmen konnten, bleibt ein Rätsel. Die Berghänge sind der Innenstadt so nah, dass man von dort das Gefühl hat, einen Stein in die Stadt schmeißen zu können. Fakt ist, dass sich die Inka nach elf Monaten Belagerung erfolglos zurückziehen mussten, als die Spanier schließlich Verstärkung bekamen. Die flüchteten in die „letzte Inka-Stadt“ Vilcabamba, von wo aus sie noch ein paar Jahre lang Guerilla-Angriffe auf die Spanier durchführten, 1572 hatten die Spanier dann aber genug davon und beendeten abschließend das Kapitel der Inka mit der Hinrichtung der verbliebenen Anführer.