[Vicuña] Nach ein paar Tagen im sehr geruhsamen Tal von Pisco Elqui, an denen wir nachts erstaunt nach oben in die Weiten des Weltalls (fast) ohne jede Lichtverschmutzung blicken durften, ging es wieder ein paar Kilometer talabwärts, um eine kurze Station im Ort Vicuña zu machen. Vicuña hat ziemlich genau zwei Sehenswürdigkeiten (abgesehen von dem allseits präsenten Pisco-Anbau und dessen Verkostung): Erstens wurde die chilenische Dichterin Gabriela Mistral hier geboren (und ein Dorf weiter beerdigt). Zweitens gibt es in der Umgebung semi-professionelle bis professionelle Observatorien, in denen die so klare chilenische Nacht in den Anden zum galaktischen Sternenspektakel wird.

Eher pflichtbewusst schauten wird im Museo Gabriela Mistral vorbei und waren dann doch beeindruckter als erwartet. Um ehrlich zu sein, gehörte die Dichterin und erste lateinamerikanische Nobelpreisträgerin (für Literatur) nicht zu unserer bisherigen Pflichtlektüre und kam erst mit der Reise in einen engeren Fokus. Das Leben und Werk Gabriela Mistrals sind jedoch beeindruckend: 1889 im chilenischen Hinterland geboren, publizierte Gabriela Mistral früh Gedichte und Aufsätze in regionalen Blättern (die es damals in Chile wie Europa zuhauf gab). Mit ihren Sonetos de la muerte hatte sie 1914 den Durchbruch (sie war 25 Jahre alt). Im nationalen Literaturwettbewerb „Juegos Florales“ gewann sie den ersten Preis, das Gedicht wurde allerdings auf ihren Wunsch von einem Freund vorgetragen. Einer der (selbstverständlich männlichen) Juroren bereute im Anschluss seine Entscheidung mit dem Argument, dass er das Gedicht schlechter gewertet hätte, wenn er gewusst hätte, dass es von einer Frau stammte. Sie gewann trotzdem – oder gerade deshalb – in den Folgejahren als öffentliche Figur und als selbstbewusste Frau an Bedeutung für Lateinamerika und war auch als Konsulin in verschiedenen Ländern tätig. Den Höhepunkt der internationalen Anerkennung stellte die Vergabe des Nobelpreises 1945 dar. Damit ging der Preis erstmals nach Lateinamerika und überhaupt zum fünften Mal an eine Frau. Gabriela Mistral starb 1957 in den USA.
Ihr Werk und ihre Bedeutung als chilenische Dichterin wurden in den späten und späteren Jahren stark von dem zweiten Stern Chiles am Literaturhimmel überstrahlt: von Pablo Neruda. Dieser war erstens männlich, hatte zweitens das Leitthema heterosexuelle Liebe und war drittens mittelbar mit dem gesellschaftspolitischen Scheitern der Linken in Chile und dem tragischen Ende des Präsidenten Salvador Allende verwoben. Mistral wurde dagegen aktiv von der chilenischen Militärjunta als nationaler Gegenentwurf zum linken Neruda mit Themen wie Mutterschaft, Heimat und der Natur propagiert, was weder ihrer Persönlichkeit noch ihrem Werk gerecht wurde. Heute ist Gabriela Mistral, die auch jahrelang als Lehrerin arbeitetee und die Rechte an ihrem Werk den Kindern von Monte Grande vermacht hat (in diesem Pisco-Dorf lebte sie eine Weile und dort ist sie beerdigt), eine in Chile weithin geehrte Persönlichkeit.
„Donde haya un árbol que plantar, plántalo tú. Donde haya un error que enmendar, enmiéndalo tú. Donde haya un esfuerzo que todos esquivan, hazlo tú. Sé tú el que aparta la piedra del camino“ / „Wo es einen Baum zu pflanzen gibt, pflanze du ihn. Wo ein Irrtum zu berichtigen ist, korrigiere du ihn. Wo alle eine notwendige Anstrengung scheuen, übernimm du sie. Sei du derjenige, der den Stein aus dem Weg räumt.“ (freie Übersetzung)
Von den Sternen am Literaturhimmel in die Nacht von Vicuña: Am selben Abend ging es mit dem Minibus die Hänge hoch zum Observatorio Cerro Mamalluca. Anders als die großen, professionellen Observatorien wie z.B. das nahe Cerro Tololo Inter-American Observatorium (das nur eingeschränkt besucht werden kann), bietet Mamalluca den un- bis halbwissenden Touristen jede Nacht drei Touren durch den Weltraum. Für uns als Nordlichter nach wie vor ein sehr unvertrauter Himmel, der sich hier über der Südhalbkugel auftut. Immerhin auf den Mond kann man sich verlassen, aber das Kreuz des Südens war eine Premiere für uns. Irre viel gelernt haben wir nicht, da das Ganze im ausgesprochen schnellen Spanisch erläutert wurde und vor Fachwörtern strotzte. Trotzdem waren die nächtliche Atmosphäre im und um das Observatorium herum sowie die visuellen Aha-Effekte über uns völlig ausreichend für eine spannende Nacht. Parallel zu uns besuchte übrigens Bundespräsident Steinmeier ebenfalls eines der (ganz großen) Observatorien in Chile: Das „Very Large Telescope“ in der Atacama-Wüste. Während dort im Norden Politik gemacht wurde, wurde bei uns am Cerro Mamalluca eine der vielen Vorsätze dieser Reise für die Zeit nach unserer Rückkehr nach Deutschland geboren: sich mehr astronomisches Wissen aneignen! Könnte aber auch eine plumpe Flucht vor den irdischen Entwicklungen sein …
