[Rio de la Plata / Colonia del Sacramento] Buenos Aires liegt am Rio de la Plata. Wenn man von der Stadt aus auf das brackig-braune Wasser schaut, dann denkt man weniger an Plata (Silber) als an organische Ausscheidungen (Mierda) … es klärt sich aber, dass der Fluss von einer Vielzahl größerer und kleinerer Zuflüsse aus dem – nach dem Amazons-Becken – zweitgrößten Delta Lateinamerikas gespeist wird. Die Sedimente werden bereits über 1.300 km nördlich an den berühmten Ignazú-Wasserfällen im Norden aufgewühlt und in das Delta gespült. Die Mündung auf der Höhe von Buenos Aires ist schon gigantisch, die Entfernung zum gegenüberliegenden Colonia del Sacramento beträgt über 50 km, die Breite beim Zufluss in den Atlantischen Ozean erhöht sich dann sogar auf über 200 km. Ein gigantisches Sußwasserreservoir, dass sich erst sehr spät mit dem Salzwasser des Atlantiks mischt.
Über diesen riesigen Süßwassersee, der an einer Seite zum Meer hin offen ist, geht es mit der Fähre in etwas mehr als einer Stunde nach Uruguay in den kleinen (sehenswerten!) Ort Colonia del Sacramento, einer kolonialen Siedlung aus dem 18. Jahrhundert. Erst von den Portugiesen angelegt und dann Spielball der Mächte: mal hatten die Spanier das Sagen, mal die Portugiesen; im Ergebnis eine wilde Mischung aus Häusern mit (Portugal) und ohne (Spanien) Schrägdach sowie Straßen, die konvex (Spanien) – mit Rinnen an den Seiten – und konkav (Portugal) – mit Rinne in der Mitte – angelegt sind. Die UNESCO fand diese Mischung der Kulturen so einzigartig, dass der kleine Ort seit 1995 Weltkulturerbe ist.
Während viele Fährreisende mit Bussen nach Montevideo weiterfahren, bleiben wir vor Ort und genießen die Aussicht auf das „Meer“ (Rio de la Plata), streifen an sehr netten Cafés vorbei und entdecken nebenbei eine kleine Galerie des Argentiniers „Fred“, der nach Jahren in Paris schließlich in Uruguay gelandet ist. Das Land sei einfach lebenswert, so der Exil-Argentinier. Eine Einschätzung, die uns – weniger überraschend, aber umso überzeugter – der uruguayische Führer auch auf unserem Gang durch die Stadt bestätigt. Er sieht den Schlüssel zum Lebensglück der Menschen hier in ihrer Genügsamkeit. Das westliche „Mehr-Mehr-Mehr“ sei hier fremd. Die Menschen in Uruguay seien genügsam. Hauptsache „Beef, mate, football, family and friends“, wenn davon genug da ist – er betont dabei insbesondere die ersten drei Glückstreiber – dann ist gut.
Außerdem liebt man den Ausgleich, das Moderate: bei Wahlen kommt es immer wieder zum Wechsel der Farben und Ausrichtung der Regierung (aktuell steht die Übernahme der Regierungsgeschäfte durch Yamandú Orsi von den Linken an), es gibt aber kaum große Unterschiede im Handeln, keine Polarisierungen und genau genommen bleibt fast alles wie es vorher war. Die Politikstunde endet mit dem Credo „We believe in our Government“; ein Glaubenssatz, der eher selten über deutsche Lippen kommt. Die Beispiele, die er zur allgemeinen Lebenslage aufzählt (bezahlbare Steuern, dafür freie Bildung in relativ guter Qualität, staatliche Anbieter von Basisdienstleistungen wie Strom und Telekommunikation sowie sehr soziale Förderprogramme für den Erwerb von Immobilien) klingen erst einmal überzeugend. Im Ergebnis hat Uruguay eine – gerade im Vergleich zu Argentinien – sehr stabile Wirtschafts- und Finanzlage, eine sehr geringe Arbeitslosigkeit … das Ganze aber zu fast europäischen Preisen.
Das deutsche Pärchen aus Wuppertal, mit dem wir die Führung durch die Stadt gemeinsam machen, hört mit besonderem Interesse zu. Beim gemeinsamen Kaffee erfahren wir, dass die beiden drei Wochen in Uruguay sind mit dem Ziel, die Eignung als Zielland für eine mögliche Auswanderung zu prüfen. „Wenn’s ganz hart kommt in Deutschland“, so die Begründung, die auch deshalb ein flaues Gefühl bei einem hinterlässt, weil man es in den letzten Jahren und insbesondere in den letzten Monaten immer mal als Einschätzung gehört hat, hier wird es aber dann sehr konkret.
Im Jahr 2025 sind Deutsche durch die Kriegssituation im Osten und die politische Radikalisierung innerhalb Deutschlands so sehr verunsichert (bis verängstigt), dass sie ernsthaft Fluchtpunkte und Rückzugsorte für „den Fall“ suchen. Im Gespräch geht es schnell um die Stimmung unter Linken und Juden in den 30er-Jahren, die zu spät realisiert hätten, dass man sich der Gefahr aktiv entziehen muss. Mein Einwand wirkt schwachbrüstig, dass das zwar eine persönlich verständliche Strategie ist, auf politischer Ebene aber die kollektive Flucht einer kritischen Bevölkerungsschicht einen selbstverstärkenden Effekt im Sinne der Radikalen, Kriegstreiber und Rassisten hat. Auf der Überfahrt zurück nach Buenos Aires bleibt von der historischen Colonia weniger hängen als von der erhöhten Beunruhigung, die von der aktuellen Weltpolitik und der anstehenden Bundestagswahl ausgehen. Es hilft nicht wirklich, dass parallel die Nachrichten über die Inauguration eines verurteilten Verbrechers, Rassisten und Egomanen in das Amt des mächtigsten Mannes der Welt eingehen.
Vielleicht sollte man sich Uruguay doch nochmal genauer anschauen …