[Évora, Portugal] Im portugiesischen Évora lassen sich an zwei prägnanten Beispielen aktuelle Konflikte zeitgenössischer Erinnerungskultur festmachen. Da ist zum einen das Stadtwappen, das Geraldo Geraldes (el Sin Pavor, der ohne Furcht) zeigt. Der städtische Held war an der „Befreiung“ der Stadt Évora im Zuge der „Reconquista“ im Jahre 1165 beteiligt. Als historische Figur war er wohl ein adeliger Abenteurer aus dem Norden Portugals und Anführer von zweifelhaften Zeit- und Kampfgenossen. Im Wappen der Stadt kann man ihn als Ritter mit blutigem Schwert sehen, dem zwei abgetrennte Köpfe zu Füßen liegen: der Kopf des maurischen Torwächters und der Kopf dessen maurischer Tochter.
Anders als in Santiago de Compostela (Maurentöter, vgl. Blog #16: Santiago-Kult und Rassismus) scheint es keinerlei Problem mit dieser Darstellung zu geben, die sich bis heute als Wappen der modernen Stadt Évora hält, auf allen offiziellen Plänen und Dokumenten zu sehen ist und sogar die Straßenlaternen der Stadt auf „schmückt“.
Ein anderer zweifelhafter „Schmuck“ findet sich gegenüber der vielbesuchten Kathedrale von Évora: Das Gebäude der Inquisition. Die portugiesische Inquisition wurde zwar 1536 vergleichsweise spät gegründet (da wütete sie schon teilweise 300 Jahre in anderen Ländern). Dennoch fielen ihr ähnlich viele unschuldige Menschen unter ähnlich grausamen Umständen und ähnlich haltlosen Verfahren zum Opfer wie in den anderen Hochburgen der katholischen Inquisition (die spanische Inquisition kam in 300 Jahren auf 12.000 Tote).
Opfer waren vorzugsweise Juden und Muslime, oftmals aber auch Christen. Selbst die auf der iberischen Halbinsel zahlreichen konvertierten Juden und Muslime waren als „neue Christen“ nicht vor Verfolgung und Folter sicher: unter Folter (oder in der damaligen Begrifflichkeit „peinlichen Befragung“) wurde ihnen das Festhalten an ihrem alten Glauben und dessen Riten vorgeworfen. Es war eine Zeit der Denunziation, da auch anonyme und beliebige Vorwürfe entgegengenommen und verfolgt wurden. Évora war einer von ursprünglich sechs, ab 1548 einer von zwei Standorten der Inquisition in Portugal: Sie war die Stadt mit der höchsten Zahl an Verurteilungen (knapp 10.000, davon „nur“ 344 Todesurteilen). Portugal hat die Inquisition erst 1821 beendet. Der Vatikan hat die Inquisition erst 2000 in milden Worten verurteilt (als „Sünden im Dienste der Wahrheit“). Was aber bis heute noch öffentlich zur Schau getragen wird, ist das stolze (und offenbar relativ frisch restaurierte) Wappen der Inquisition gegenüber der katholischen Kathedrale. Es finden sich weder kritische Anmerkungen zum historischen Kontext am Gebäude selbst noch irgendwelche sonstigen Hinweise auf dem zentralen Platz oder im benachbarten Museum.
Das sind die Momente, in denen die Debatten um Denkmäler von Sklavenhändlern in den USA oder Großbritannien oder die aktuelle Debatte um die Statue zu Ehren der sog. koreanischen „Trostfrauen“ in Berlin-Mitte ihren Sinn erweisen. Eine Stadtgesellschaft identifiziert sich immer entweder explizit oder implizit mit ihren „Denkmälern“, Wappen und sonstigen Ausdrücken öffentlicher Wertschätzung (oder Herabsetzung, wie im Fall der öffentlichen „Judensäue“ an den christlichen Kirchen in Wittenberg oder Regensburg).
Das Ganze könnte man ja auch als Sache der Evorianer*innen abtun: Sollen die doch ihre Geschichte auf die Reihe bekommen und einen vernünftigen Umgang damit finden. Wer sind denn wir Deutsche, die hier mit dem Zeigefinger auftauchen (siehe Wittenberger Judensau) … wenn da nicht die Kulturhauptstadt Europas wäre: Évora ist die Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2027 und da darf man sich dann schon als Europäer*in einen (selbst-) kritischen Umgang mit der (europäischen) Geschichte vor Ort wünschen.