[Iberische Halbinsel] Vor unserem Aufbruch nach Portugal und Andalusien legten wir noch einen Spaziergang in den Wäldern hinter Bueu auf unserer Halbinsel Morrazo ein, das ist wirklich im Nichts. Und im Nichts stoßen wir auf eine alte Römerstraße, rudimentär im Wald mit einem alten Schild ausgewiesen als Teil eines größeren Straßennetzes, das die damals wichtigen Städte verband (unser kleines Waldstück war weit weg von den drei Hauptstraßen durch Galizien, sie war Teil der XX. Straße von Braga nach Astorga). Bueu war zur römischen Zeit ein winziges Fischerdorf (Perscadoira) mit Salzanlagen und Öfen. Diese Reste einer ausgefeilten Infrastruktur, die erst der militärischen, dann der wirtschaftlichen Erschließung des Imperiums diente, sind auch nach 2.000 noch beeindruckend, da man das hohe Niveau in Handwerk, im Ingenieurswesen, im Verwaltungsaufbau und der Kommunikation plötzlich konkret erahnen kann. Nur mit diesem technologischen (zivilisatorischen?) Vorsprung ist erklärbar, dass ein relativ kleines Volk am Tiber einen gigantischen Teil des heutigen Europas, Nordafrikas und Teile von Vorderasien unterwerfen, erschließen und über mehrere Jahrhunderte ausbeuten konnte.
Ein Muster, da sich später auch mit Spaniens Eroberung der „Neuen Welt“ bzw. Portugals Eroberungen in Brasilien, Afrika und Asien wiederholen sollte: relativ kleine „Mutterländer“ halten riesige Länder und Völker mit einem vorübergehenden technologischen Vorsprung unter Kontrolle (damals insbesondere die Waffentechnologie); trotz der riesigen Entfernungen und der um ein Vielfaches größeren Völkergruppen, die dort unterworfen wurden. Im Fall Roms dauerte diese Expansions- und Extraktionsphase von ca. 200 v. Chr. bis ca. 400 n. Chr, immerhin gut 600 Jahre. Im Fall der hispanischen Eroberung und Ausbeutung des lateinamerikanischen Kontinents dauerte die Phase von 1492 bis in unsere Zeit, also ebenfalls gut 600 Jahre.
Die Blütezeit des römischen Imperiums auf der iberischen Halbinsel war im 1. und 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Auf unserer Fahrt durch Portugal (die ehemalige römische Provinz Lusitania) haben wir uns die Reste römischer Macht in Coimbra (altes Forum) und der Vorläuferstadt Conimbriga (vertraute Mauerreste von Villen, Thermen, Abwasserkanälen, Tempeln, Stauen, …) angeschaut. Erstaunlich, wie dann doch auch große Imperien und ihre steinernen Zeugnisse mit der Zeit verschwinden und vergessen werden. In Évora, unserer anschließenden Station in Spanien steht noch ein relevanter Teil des Tempels auf dem Forum, weil die Anlage im Mittelalter vollständig eingebaut worden war und teilweise als Schlachthaus genutzt wurde.
Italica, die erste Stadtgründung der Römer außerhalb Italiens wurde trotz ihrer Pracht und kaiserlichen Bedeutung (Caesar war hier mehrfach, Trajan und Hadrian wurden hier geboren) irgendwann nach den Goten aufgegeben und mit den Mauren vergessen. Erst im 18. Jahrhundert erinnerte man sich an diese Gründung aus der Zeit der punischen Kriege und begann zu graben. Da lag aber bereits ein neues Dorf auf der alten Stadt (bis heute sind nur Teile der „Neustadt“ von Hadrian ausgegraben). Man läuft durch die Felder, erahnt mit den freigelegten Straßenzügen die Struktur und Größe der Stadt, steht vor dem zweitgrößten Amphitheater der römischen Welt und dennoch: Es ist weniger die zivilisatorische Größe die hier beeindruckt als die offensichtliche Vergänglichkeit menschlichen Wirkens. Die Natur hat einfach den längeren Atem …
Und dennoch: wenn man genau hinschaut und die übereinander liegenden Schichten iberokeltischer, römischer, jüdischer, westgotischer, maurischer, christlicher und neuzeitlicher Zeugnisse und Kulturen in ihren Bezügen wahrnimmt, dann kann man zwar feststellen, dass irgendwann vor 2.000 Jahren alle Wege (selbst aus dem kleinen galizischen Nest Bueu) nach Rom geführt haben mögen. Aus heutiger Sicht verköpern die steinernen Zeugnisse jedoch vor allem das kulturelle Amalgam, das sich bis heute als dynamsiches Gemisch aus einer Vielzahl von Kulturen gebildet hat und weiter bildet. Die oft beschworene Vorstellung einer „christlich-abendländischen“ Kultur als etwas Fixes und in sich Abgeschlossenes mag die Sehnsucht nach einer dominanten, homogenen Kultur verkörpern; historisch ist sie nicht überzeugend begründbar.