[Andalusien] Wenn man eine Weile in Andalusien ist und sich an der Sonne, dem Meer und den Tapas sattgesehen hat, fällt einem schnell auf, dass im ganzen Küstengebiet und im Hinterland auf ähnliche Steine zum Bau der Gebäude zurückgegriffen worden ist. Das gilt für die wenig erhaltenen Bauten der Phönizier, die etwas besser erhaltenen römischen und maurischen Bauten bis hin zu den christlichen und neuzeitlichen Bauten (bis ins 19. Jahrhundert). Erst die „neueren“ Bauten des 20. Jahrhunderts sind in Ziegel und dann Beton ausgeführt.
Das spannende an diesem lokalen Stein, ist seine Beschaffenheit, die naturgemäß (hier wörtlich) mit dem Meer zusammenhängt. Der Stein hört auf den Namen „Roca ostionera„. Dieses Sedimentgestein besteht aus Ablagerungen des Meeres in Form von Sand, Steinen und Muscheln und ist aufgrund seiner porösen Struktur gut zu bearbeiten. Es ist für die gesamte Küste Andalusiens von Cadiz über Conil bis Malaga prägend und findet sich in historischen Bauten wie den Kathedralen von Cadiz und Malaga, dem Torre Guzman in Conil und den maurischen Toren und römischen Ruinen in Medina Sidonia. In der Natur liegt das Sedimentgestein frei wie etwa am Kap Trafalgar, in Steinbrüchen wie z.B. in Puerto Real bei Cadiz oder schlicht in ausgeschachteten Coniler Parkplätzen.
Die Sedimente sind uralte Zeugen geologischer Verschiebungen, die im Bereich der heutigen Straße von Gibraltar stattgefunden haben. Ein mehrfaches Heben und Senken der Erdplatten führte erst zur Bildung eines riesigen Meeres (das Tethysmeer vor ca. 250 Mio. Jahren war der Vorläufer des heutigen Mittelmeeres), dann zur Kappung aller Zuflüsse. Vor etwa 6 Mio. Jahren schloss sich die Landverbindung zwischen Afrika und Europa und die Beltische Kordillere (u.a. heutige Sierra Nevada) bildete sich. Das „Mittelmeer“ trocknete daraufhin vollständig zur Salzwüste aus und erst durch eine weitere Absenkung der Landbrücke zwischen Europa und Afrika floss vor ca. 5,3 Mio. Jahren wieder Wasser ins tieferliegende Becken des heutigen Mittelmeeres.
Bis heute besteht zwischen der Meeresoberfläche des Atlantischen Ozeans und des (westlichen) Mittelmeeres ein Höhenunterschied von ca. 1,5 Metern, so dass eine starke Strömung aus dem Atlantik in Richtung Mittelmeer existiert. Gleichzeitig senkt sich das Mittelmeerwasser mit seinem hohen Salzgehalt (und damit höherem Gewicht) in Richtung Meeresboden ab und verdrängt dort Tiefengewässer, die in Richtung Straße von Gibraltar verdrängt werden, wo es an Höhen und Tiefen der sog. „Gibraltarschwelle“ zu Verwirbelungen kommt, die Nährstoffe aus der Tiefe des Meeres an die Oberfläche treiben. Dies erklärt die hohe Nährstoffdichte, das hohe Fischaufkommen und die starken Strömungen, die für die Straße von Gibraltar typisch sind.
Das wiederholte Heben und Senken von Meeresniveau und Erdplatten kann in den erwähnten Sedimentschichten und ihren (oftmals schrägen) Ausrichtungen beobachtet werden. Aber das eigentlich Spannende ist die zu Tage tretende Zusammensetzung des Gesteins mit seinen Muschelresten. Wenn man die größeren und kleineren Muscheln bzw. Muschelbruchstücke berührt, die in den Steinen der Gebäude stecken oder in dem freiliegenden Sedimentgestein, dann kann man davon ausgehen, dass dieses konkrete Objekt älter als 100.000 Jahre ist. Dabei handelt es sich um keine Versteinerung, sondern um einen ehemals lebenden Organismus, der sich vor über 100.000 Jahren zu einer bestimmten Zeit ausgebildet hat, für einige Jahre gelebt hat (Muscheln werden in der Regel ein paar Jahre bis ein paar Dutzend Jahre alt) und dann als Muschelrest wie heute im Sediment verschwand. So konnten wir an unserem Parkplatz in Conil Muscheln aus dem Sediment lösen, die mal eben eine Brücke in die Steinzeit und Frühzeit des Homo sapiens schlagen. Da relativieren sich die 1.000- bzw. 2.000-jährigen maurischen und römischen Ruinen, die selbst mit diesem Stein aus der Vorzeit gebaut haben und in denen man bei gezielter Suche die entsprechenden Muschelreste finden kann.
Angesichts der erdgeschichtlichen Zeitläufe und deren Relativierung menschlicher Epochen schrumpft das eigene Leben doch sehr stark zu einem kleinen Punkt auf einem großen Zeitstrahl. Auch wenn man kein religiöser Mensch ist, kann so ein Muschelrest an der Oberfläche einer profanen Mauer ein Gefühl der Demut auslösen. Das ist dann der ideale Moment, um den Song „Dust in the wind“ von Kansas aufzulegen und über die Begrenztheit menschlichen Lebens und Wirkens nachzudenken … auch hier hilft ein Blick auf den „Roca ostionera“, da er so porös ist, das er im freigelegten Zustand von Wind und Wetter in wenigen Jahrhunderten zerfressen wird und hinfällig ist. Als Baustoff für Kathedralen ist dieser Stein im technischen Sinne daher eher ungeeignet, im spirituellen Sinn (Demut & Vergänglichkeit) aber von starker symbolischer Kraft.