Nach drei vollen Monaten auf dem europäischen Kontinent und dort vorzugsweise auf der iberischen Halbinsel, naht langsam der Tag der Rückfahrt. Und prompt setzen die ersten „Letzten Male“ ein und die bis eben endlos erscheinenden Tage sind plötzlich zählbar. Vor diesem Hintergrund müssen vor Abfahrt aus diesem schönen Landstrich dringend noch zwei Gedanken gedacht und „zu Papier“ gebracht werden, die über die letzten Wochen aufgelaufen sind und es noch nicht ins Reisejournal geschafft haben:
a) Die Spanier sind ein hoch pragmatisches Völkchen, das für starre Ideologien weniger empfänglich scheint als wir Deutschen oder die unmittelbaren französischen Nachbarn. Schon Franco gelang der pragmatische Mittelweg zwischen Hitler und den Alliierten und Jahrhunderte zuvor prägte Pragmatismus auch die spanische Heiratspolitik. So heiratete Philipp IV kurzerhand seine 13-jährige Nichte, die eigentlich sein – dann früh verstorbener – Sohn heiraten sollte (das Ergebnis war allerdings wenig überzeugend – Karl II, der ohne Nachkommen und debil verstarb, was den Spanischen Erbfolgekrieg auslöste). Aktuell kann man den Pragmatismus der Spanier im Streit um den Namen ihrer Fußballtrophäe bzw. ihres Fußballstadions in Cadiz beobachten: ursprünglich nach einem belasteten Politiker des Franco-Regimes benannt (Ramin de Carranza), wurde das Stadion 2021 nach einer Abstimmung in „Nuevo Mirandilla“ umbenannt. Die zugehörige Trophäe „Ramin Carranza“ wurde erst diesen Sommer geändert, und zwar ganz pragmatisch in „Carranza“-Trophäe. Das wünschen sich die Fans und ein Teil der Öffentlichkeit auch für das Stadion, da sie dieses immer noch als „La Carranza“ bezeichnen. Man stelle sich vor, dass das „Adolf Hitler“-Stadion ganz pragmatisch in „Hitler“-Stadion umbenannt wird … irgendwie hat jeder Pragmatismus auch seine Grenzen. Erinnert ein bisschen an die Umbenennung der „Ernst-Moritz-Arndt“-Kirchengemeinde (im Volksmund: EMA-Gemeinde) im heimischen Berlin-Zehlendorf, wo man sich ebenfalls ganz pragmatisch auf die Umbenennung in „Emmaus“-Gemeinde (im Volksmund: EMA-Gemeinde) geeinigt hat, die bis heute ganz offiziell den Namenszusatz „früher: Ev. Ernst-Moritz-Arndt-Gemeinde“ führt. Pragmatisch eben …
b) Die Spanier sind echte Glücksritter: Das bezieht sich weniger auf die Ahnenfolge nach Cervantes Don Quixote und Sancho Panza als auf das aktuell verbreitete Glücksspiel in Spanien. Es gibt kaum etwas anderes, das so verbreitet, so öffentlich und so populär ist, wie die Staatliche Lotterie. Die Spanier ziehen an jeder Ecke ein Los; das ist fast wörtlich gemeint, denn in jedem Kaff gibt es Lotteriehütten, in denen gerade mal ein Mensch Platz findet und der verkauft ganztägig Lose. Vor den Supermärkten und an belebten Ecken finden sich fliegende Lotteriehändler, die Lose anbieten. Und in der seriöseren Variante hat die staatliche Lotterie-Gesellschaft „Loterias y Aquestas del Estado“ gleich Gewerberäume angemietet, die ausschließlich Lose verkaufen. In Kneipen finden sich Aushänge, in denen Kneipenbrüder und -schwestern gemeinsam auf eine Losnummer setzen.
Der jährliche Höhepunkt ist die „Sorteo Extraordinario de Navidad“ (Weihnachtslotterie), die immer am 22. Dezember gezogen wird und in der es um die weltweit höchsten Gewinnsummen geht. Auch hier lässt sich etwas Lokalkolorit einstreuen: die erste Ziehung dieser seit 1812 bestehenden Lotterie erfolgte im nahen Cadiz statt und fand seitdem (auch vom Faschismus) ununterbrochen statt. 2022 lag die Gewinnsumme bei 2,5 Mrd. €, der Hauptgewinn („El Gordo“) bei 720 Mio. € … da kann man schon mal schwach werden.
Es verwundert etwas, dass in einem erzkatholischen Land wie Spanien das Laster des Glücksspiels so ausgeprägt ist. Aber eventuell erklärt gerade das grenzenlose Gottvertrauen die Lust am Spielen. Dabei hilft bestimmt auch das in der Regel religiöse (christliche) Bildmotiv auf den Losen. Im Übrigen beteiligt sich auch die Katholische Kirche mit ihrem untrüglichen Gespür fürs Geschäft am Geschäft: Lose können auch direkt in einigen Sakristeien (z.B. in der Basilica von Gijón käuflich erworben werden). Im Ergebnis kaufen aktuell fast 75% aller Spanier zwischen 17 und 75 Jahren ein Los. Im Schnitt gibt JEDER Spanier und JEDE Spanierin 73,84 € pro Jahr für die Lotterie aus [Quelle].