Sehenswürdigkeiten Unterwegs

#95 | Schildkrötentour in Tortuguero

[Tortuguero/ Costa Rica] Wenn man in Costa Rica ist, dann kommt man zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht an den Schildkröten vorbei. Das Land ist ja insgesamt gesegnet und reich („rica“) an Flora und Fauna, aber die Schildkröten sind die Kür der Reise. Zumindest, wenn man ab Juli die karibische Küste des Landes bereist.

So finden wir uns also mit einer Menge gleichgesinnter Touristinnen und Touristen in Tortuguero wieder, einem kleinen autofreien Örtchen an einer Lagune, das von Puerto Limon nur mit einer knapp dreistündigen Flussfahrt per Schnellboot zu erreichen ist. Tortuguero liegt im gleichnamigen Nationalpark, der sich weit über die Küstenbereiche und tief in den Dschungel der Hinterlandes erstreckt.

Auf dem Weg darf man vom Boot aus noch ein paar Krokodile entdecken, die faul am Ufer in der Sonne liegen. Am eindrucksvollsten sind aber die großen Bäume, die das Flussufer säumen und die mit ihrem eigenartigen, brettartigen Wurzelwerk bis ans/ins Wasser reichen.

In Tortuguero sind wir wieder im schwülen, tropischen Klima, so dass jede Bewegung Schweißbildung zur Folge hat. Bewegt man sich nicht, schwitzt man auch, aber etwas weniger. Das ist auch nicht wirklich besser im Hotelzimmer, wo zwei leistungsstarke Ventilatoren damit beschäftigt sind, die schwüle Luft inklusive der darin enthaltenen Feuchtigkeit im Raum umzuverteilen. Das einzig Überraschende an diesem Anreisetag ist ein ziemlich großer Krebs, der verloren in der Dusche sitzt und uns – ohne sich zu bewegen – einen ziemlichen Schrecken einjagt (man erwartet hier unterbewusst jederzeit überraschende Begegnungen mit jeder denkbaren Größenklasse von Insekten, aber nicht mit Meerestieren…). Das Erstaunliche ist, dass dieses Tier ohne fremde Hilfe kaum vom etwa 50 Meter entfernten Strand bis in die Dusche gekommen sein kann, aber es ist einfach zu schwül, um darüber länger nachzudenken. Wir trennen uns einvernehmlich voneinander, er wird per Frischkäsedose transportiert und geht am nahen Strand seitwärts seiner Wege.

Der nächste Tag ist Tourentag. Tourentag bedeutet in Tortuguero in der Regel zwei bis drei Touren an einem Tag (vermutlich, um die Stadt dann am Folgetag wieder verlassen zu können). Wir haben das Paket von der deutschen Biologin Barbara (einer der vielen „Expats“, von denen es hier in Lateinamerika nur so wimmelt): früh um 5:30 h startet die Kanutour über die Lagune in das verzweigte Flusssystem und die Mangroven des Nationalparks, dann wird etwas hektisch das Frühstück nachgeholt und um 10 h startet die Hiking-Tour durch den Nationalpark. Dann darf man die Mittagshitze im Hotel unter den beiden Ventilatoren schwitzend hinter sich bringen und gegen Abend kommt der eigentliche Höhepunkt: „Die Ei-Ablage“.

Die ersten beiden Touren sind schnell beschrieben, da nicht viel zu berichten ist: kaum Tiere gesehen und in einen unfassbaren Tropen-Sommerregen gekommen. Es schüttete vom Himmel, wie ich es noch nie erlebt habe, und weder konnte man viel sehen noch konnte man etwas (außer dem Regenrauschen) hören. So ein Regenzeitregen kommt recht vehement daher. Zu Beginn des Regenschauers hatten wir etwas Mitleid mit den (vielen) Gleichgesinnten, die sich statt für Kanus für ein Kajak entschieden hatten und ohne jeden Regenschutz in geduckter Haltung dem Regen ausgesetzt waren. Wir fragten uns, warum sie nicht ein paar Dollar mehr in eine solide Kanufahrt inklusive Regenponcho investiert hatten. Selbst schuld… Aber nach etwa zehn Minuten wurde klar, dass unser Kanu sich schnell mit Regenwasser füllen und die Ponchos angesichts der Regendichte keine nachhaltige Wirkung haben würden. Nach 15 Minuten Sturzregen waren alle sozialen Unterschiede auf dem Wasser weggespült und alle waren durch alle Kleidungsschichten hindurch gleich nass und allen war gleich kalt. Die Tourguides hatten aber kein Einsehen und zogen alle mit der schulterzuckenden Bemerkung „Regenzeit“ die Tour über zwei Stunden durch. Es troff, rann, tropfte und plätscherte von allen Seiten, begleitet von unheilvollem Gewitterdonner…

Ein paar Tiere waren dann doch noch zu sehen …

Das Frühstück in nassen Klamotten war kein Höhepunkt der Reise. Es wurde aber schnell klar, dass nach dem Ende des Regenschauers der tropische Effekt erhöhter Luftfeuchtigkeit eintreten und sich das frostige Gefühl der Durchkühlung schnell in den vertrauten Zustand der schweißbedingten Durchfeuchtung verwandeln würde. Kurzer Abstecher ins Hotel, Wechsel in „frische“ Klamotten und Abgang zur Waldtour. Die Guides zwangen uns Gummistiefel auf (wie sich schnell erwies: völlig sinnvoll) – deren Comic-Design bei einen französischen Jungen aus der Tourgruppe eine tränenreiche Krise auslöste, was seine Eltern die halbe Tour hindurch beschäftigte – und dann ging es durch den Schlamm in den Dschungel, wo wir vor etwa zwei Dutzend Jaguaren gewarnt wurden. Falls uns einer begegnet, sollten wir die Arme seitwärts in die Luft heben (um größer zu wirken) und im diesem Fall wäre das allgemeine Fotoverbot aufgehoben und wir dürften den Jaguar fotografieren (wie das mit erhobenen Händen funktionieren soll, blieb offen. Spielte später aber auch keine Rolle). Auch hier: viele Touristen und wenig Tiere. Immerhin folgten wird dem „Sendero del Jaguar“, und ein Baumstamm wies Kratzspuren von beeindruckenden Krallen auf. Das war aber auch alles… Unser Tourguide war aus Mangel an Jaguaren und anderem Großwild sogar gezwungen, uns auf kleine Spinnen auf einem Blatt hinzuweisen, die keine echten Spinnen seien, diese Insekten mit dieser Art der Tarnung gäbe es nur hier. Aha. Immerhin: ein paar Kapuziner- und Klammeraffen und zwei bis drei Faultiere konnten wir aus der Ferne in den Baumkronen erahnen.

Dann das Highlight: die Schildkröten! Um 19 Uhr mussten wir uns bereits treffen und erneut in die ungemütlichen, noch feuchten Gummistiefel steigen, um dann zu einem über 2 Kilometer entfernten Strandabschnitt zu watscheln. Die Strecke führte wieder durch den Dschungel und in der Nacht, bei völliger Dunkelheit, wirkten die Geräusche und die Erzählungen von zwei Dutzend Jaguaren irgendwie anders und intensiver. Wir bekamen ein paar Informationen zur Fortpflanzung dieser gepanzerten Meereswirbeltiere, von denen es vor Costa Ricas Küsten vier Arten gibt. Die Weibchen graben am mehrere Kilometer langen Strand von Tortuguero mehrere Zehntausend Nester, 30 bis 50 cm tiefe Gruben im Sand, im Verlauf der Saison von Juli bis Oktober. Ein Nest enthält bis zu 150 Eier, aus denen nach 50 bis 60 Tagen, ausgebrütet von der Sonne, deren Wärme auch über das Geschlecht entscheidet, gleichzeitig die Jungtiere schlüpfen, die sodann ihren schwierigen Weg zum Meer nehmen und von denen am Ende der Nahrungskette nur ein Prozent (!) überlebt. Die Schildkrötenweibchen brauchen über 20 Jahre, um geschlechtsreif zu werden und kommen exakt an den Strand zurück, an dem sie selber geschlüpft sind – ihren „Geburtsstrand“ – (was nach 20 Jahren des Herumschwimmens und -Treibens im Atlantischen Ozean eine bemerkenswerte Leistung ist). Im Laufe der Saison kommt jedes Weibchen vier Mal an den Strand und legt seine Eier an, was bedeutet, dass paarungstechnisch einiges los ist da draußen auf hoher See oder besser in tiefer See.

Die Strände im Tortuguero-Schutzgebiet sind in Sektoren eingeteilt, die von Rangern überwacht werden. Wenn dann nachts eine Schildkröte auftaucht, werden in bestimmten Zeitkorridoren (ca. 20 – 23 Uhr) Touristengruppen auf den Strand gelassen, deren Zugang und Verhalten streng geregelt ist. Von dem Eintrittspreis gehen 7 USD direkt in das Schutzprojekt, was den nächtlichen Massenauflauf etwas erträglicher macht. Wir stehen mit unserer kleinen Gruppe dann irgendwann am Strand, Taschenlampen und Handylichter sind strengstens verboten, nur der Guide hat ein Rotlicht dabei. In der Ferne sehen wir die Schatten einer größeren Gruppe, die einer Schildkröte offenbar dabei zuschaut, wie sie ihr Nest zuschaufelt: es fliegt in regelmäßigen Schüben eine Menge Sand in Richtung Gruppe. Die Glücklichen.

Wir vertreiben uns die Zeit im Mondlicht am Strand mit der Betrachtung des riesigen, bleichen Kadavers einer weniger glücklichen Schildkröte. „Der Jaguar“ ist die Auskunft des Guides mit dem beunruhigenden Hinweis, dass er sie wohl gestern oder vorgestern erlegt hätte. Während wir uns im dunklen Busch des Dschungels umblicken, erklärt er, dass die Meeresschildkröten im Gegensatz zu den Landschildkröten ihren Kopf und ihre Gliedmaßen nicht zu ihrem Schutz in den Panzer zurückziehen können. Sie sind den Raubkatzen, die am nächtlichen Strand auf sie warten, schutzlos und – mit ihren Flossen -zu Land nur unbeholfen mobil ausgeliefert („Wie wir“, denke ich und hoffe auf den abschreckenden Effekt vieler Menschen bzw. den statistischen Effekt, dass der Jaguar bei dem Angebot nicht unbedingt uns auswählen wird).

Dann taucht unser Guide plötzlich ab und verschwindet auf allen Vieren im Gebüsch, wo Dschungel und Strand zusammentreffen. Wenig später winkt er uns mit dem Rotlicht heran und wir dürfen still an eine große Grube treten, in der eine ovale Form liegt: der Panzer. Viel größer als erwartet. Die Schildkröte hat sich bereits ca. 80 cm tief eingegraben und steckt mit dem Kopf nach oben und dem Unterleib nach unten in einer Grube von ca. 150 cm Durchmesser. Wir kommen, als sie schon dabei ist, die Eier zu legen, die sich als heller Haufen von wabbeligen, weißen Kugeln auf den Boden der Grube sammeln. Sie haben die Größe von Hühnereiern, sind aber offenbar durch eine weiche, zähe Schicht geschützt. Der ganze Prozess wirkt mühsam und immer wieder unterbricht das Weibchen seine arterhaltende Tätigkeit. Bei der Eiablage ist das Tier angeblich in einer Art Trance und bekommt nichts von seiner Umwelt mit, so dass ein paar Zaungäste nicht schaden, wird uns versichert. Das Muttertier hat seine Tätigkeit wieder aufgenommen und schließlich nach ca. 10 Minuten beendet. Dann folgt der Teil, bei der man am liebsten in die Grube steigen und diesem armen Tier helfen würde: das Zuschütten der Grube. Mit den Hinterflossen bedeckt sie zunächst die Eier mit Ladungen von Sand, mit allen vier Flossen schaufelt sie dann den Sand hin und her, so dass sich die Grube langsam füllt und sie immer weiter an die Oberfläche gelangt. Auch hier muss sie immer wieder innehalten, das Ganze sieht nicht nur fruchtbar mühsam aus, es ist es ganz offensichtlich auch.

Nachdem die Grube aufgefüllt und die Eier geschützt sind, schließt sich wieder so ein Wunder der Natur bzw. des tierischen Instinkts an: es folgt die „Camuflaje“ (Camouflage), die Schildkröte produziert mit ihren Flossen und Drehbewegungen des Körpers eine zweite Senke etwas abseits vom „richtigen“ Nest, damit Wildtiere auf die falsche Fährte gelockt werden. Am Ende dieser sich nochmal etwa eine Dreiviertelstunde hinziehenden Prozedur wendet sich das Tier zum Meer und muss es jetzt ohne Begegnung mit dem Jaguar oder anderen Feinden bis dorthin zurück schaffen. Das ist der rührende Teil der Tour (ihrer und unserer): für den Rückweg zu ihrem Lebensraum muss sie nach den ganzen Strapazen ihre letzten Kräfte mobilisieren und wird wohl von einer unbändigen Sehnsucht nach dem Wasser angetrieben. „Unsere“ Schildkröte hat den Jaguar in dieser Nacht nicht zu fürchten, da ihr ein Spalier von ca. 100 dunklen Zuschauern (mehrere Gruppen) zur Seite steht und sowas wie eine andächtige, stille Ehrenformation bildet, während sie sich im Abstand von ca. 10 Metern langsam Stück für Stück mit ihren Flossen in die Höhe und nach vorne wuchtet. „Tortugas verdes“ wie sie wiegen je nach Größe deutlich über Hundert Kilogramm. Es geht in 10 cm-Schüben voran, aber sie macht immer wieder Pausen. Die kleinsten Strandobjekte wie Stöcke oder  Kokosnüsse werden zum ernsthaften Hindernis. Während ihre Fangemeinde sie bei ihrer Anstrengung voller Zuneigung und Mitleid beobachtet, hat man gleichzeitig das verheißungsvoll rauschende Meer, die weiße Gischt, im Blick, die immer näher rückt. Da gehört sie hin, das ist ihr Element und nicht dieser Sandboden. Endlich hat sie den ersten Kontakt mit dem anrollenden Meer und hält kurz inne. Dann schiebt sie sich nach vorne, die erste Welle umspült sie schon, die zweite trägt sie fast und die dritte nimmt sie mit.

Es geht eine spür- und hörbare Erleichterung durch die zurückbleibende Fangemeinde am Strand, man hat am Ende fast körperlich mitgefühlt. Beim nächtlichen Rückweg herrscht Stille und jeder denkt über die Eindrücke nach. Ich selbst stelle mir vor, wie die Schildkröte jetzt im riesigen, dunklen Ozean der Karibik schwimmt, alleine und ohne jede Bindung. Bis auf die natürliche Bindung an ein genetisch tief verankertes Programm der Reproduktion: im Meer schwimmend befruchtet werden, sich drei- bis viermal im Jahr nachts ans Land schleppen und unter Todesgefahr und extrem mühselig Eier ablegen und diese sodann sich selbst zu überlassen, um dann wieder alleine im Meer herumzuschwimmen. Aber vielleicht ist es das wert, zumindest in dem Moment, wenn frau nach getaner (Reproduktions-) Arbeit den Saum des Meeres berührt und der schwere Körper sich vom Land löst und wieder in seinem Element ist. Das ist zumindest das Gefühl, das beim Betrachter zurückbleibt: pure Erlösung.

Da es verboten ist, eigene Fotos bei den nächtlichen Touren zu machen, hier puravida.travel