
[Antigua] Drei mächtige Vulkane umgeben Antigua Guatemala, die alte Hauptstadt des Landes in der Tiefebene „a las faldas de los volcanes“, wie man hier wohl sagt: „in den Rockfalten der Vulkane“. Es sind der über der Stadt massiv aufragende, makellos konisch geformte „Volcán Agua“, in dessen Krater sich vor Zeiten ein See gebildet hatte und der nach einiger Aktivität in der Kolonialzeit heute (zum Glück) erloschen ist, der etwas entferntere, ebenfalls friedliche „Volcán Acatenango“ mit üppig bewaldeten Hängen und schräg hinter ihm der „Volcán Fuego“, einer der aktivsten Vulkane Guatemalas. Wenn er sich nicht – wie meistens – in Wolken hüllt, hängt von der Ferne aus gesehen immer entweder ein helles Wasserdampfwölkchen an seiner Spitze oder auch ein schwarzes Rauchfähnchen, dann gab es „explosiones“ in seinem brodelnden Inneren…
Rund 3.500 Touristen erklimmen Tag für Tag den knapp 4.000 Meter hohen Acatenango, von dem aus man mit etwas Glück und bei guter Sicht kleinere oder größere Eruptionen des Nachbarn „Fuego“ aus der Nähe beobchten kann.
Nach einigem inneren Ringen entschloss ich mich, es auch zu versuchen. Unser Sohn hatte die Tour gemacht und sie als „anstrengend, aber machbar – und vielleicht das eindrücklichste Erlebnis“ seiner Reise beschrieben. Je näher das Abenteuer rückte, desto nervöser wurde ich. Man kann die eigenen Kräfte und Ausdauer ja schlecht einschätzen, und sicherlich würde ich die Älteste in der Gruppe sein. So war es natürlich auch, und unser „guía“ Ronaldo ermutigte mich im Verlauf seiner einführenden Worte („todo es cuéstion de la mente“ – „Alles ist nur eine Frage der inneren Einstellung“) damit, dass neulich eine Siebzigjährige fröhlich auf dem Gipfel angekommen sei.
Dann marschieren wir los, mit vielen Liter Wasser, Snacks und warmer Kleidung in den (schweren) Rucksäcken. Anfangs führt der aus vulkanischem, dunkelgrauem kieseligen Sand bestehende Weg einfach nur schnurgerade in die Höhe – keine Spur von Serpentinen. Es ist anstrengend, aber wir sind ja noch frisch. Uns rutschen die Rückkehrer der Touren vom Vortag entgegen, die uns – mitleidig? schadenfroh?– „buena suerte“ wünschen. Als wir die erste Pause machen, entspanne ich mich etwas: ich war nicht die Letzte. Warum fragen mich alle, wie es mir gehe? Wir setzen den Aufstieg fort, erst zwischen Maisfeldern, dann durch den Wald. Leider besteht der Weg größtenteils aus Erdstufen, gehalten von Brettern, teilweise fast einen halben Meter hoch. Das erfordert ein aktives Anheben der Beine bei jedem Schritt und kostet viel Anstrengung. Aber: Als wir die nächste Pause machen, liegt die Ebene schon tief unter uns, die Apple Watches einiger Wandergenossinnen und -genossen zeigen ermutigenderweise die Überwindung etlicher Höhenmeter an, und ich bin zwar außer Atem, aber nicht am Ende der Kräfte.
Meine Stimmung steigt…Die Gruppe hat sich inzwischen sortiert: An der Spitze Esbin, einer unserer beiden „guías“, jung, still, mit Mütze und Schal, ein schönes, ernstes guatemaltekisches Gesicht, der gemächlich, aber systematisch und routiniert in die Höhe steigt, die Hände in den Hosentaschen. Gleich hinter ihm folgen mit schnellen Schritten zwei Engländer und eine reizende Engländerin, die während der Etappen fröhlich interessante Gespräche über Linguistik und das englische health system führt, für die meine Atemkapazitäten keineswegs ausreichen. Manchmal gesellt sich zu dem englischen Trio noch ein sympathischer, sehr sozialer, alle integrierender junger Niederländer, der aber meistens seine Freundin begleitet, die sich nicht gut fühlt und deshalb schnell zurückbleibt. Es folgt ein netter 18-jährige Österreicher, der (außer mit mir) kein einziges Wort spricht, uns offenbar ausnahmslos für uralt hält, den Trip nach Mittelamerika allein gemacht hat, weil alle seine Freunde nach der Matura nach Spanien gereist sind und von seinen Eltern die strikte Vorgabe erhalten hat, nur Länder zu bereisen, deren Gefährlichkeitsstufe (offenbar nach einer Skala des österreichischen Auswärtigen Amtes) unter „4“ liegt. Dann komme meistens – laut schnaufend, viele kleine Pausen machend – ich, hinter mir eine schicke Italienerin, die wie eine langsame Maschine ohne Pausen aufsteigt, dann – in fließendem Spanisch schimpfend und stöhnend – eine Französin und schließlich die nette Niederländerin, die wohl mit der Höhenkrankheit kämpft. Wir beide teilen uns ein Paar „bastones“, an denen man sich gewissermaßen hochziehen kann, wenn die Beine keine Lust mehr haben. Die Gruppe rundet unser zweiter „guía“ Ronaldo ab, ein typischer ruhiger, freundlicher, aber in seinen Ansagen klarer guatemaltekischer Tourenführer. Die beiden Führer sind Brüder, sie machen die zweitägige Tour ohne Pause Tag für Tag. Ihre Familien sehen sie immer nur am Nachmittag und Abend des Rückkehrtages. Das Sagen hat Ronaldo, der auch gut Englisch spricht. Er berichtet, dass ihm die Arbeit in der „naturaleza“ mit unterschiedlichen „turistas“ Spaß mache.
Die beiden haben uns frühzeitig mitgeteilt, dass „la parte la màs dura“ nach dem Mittagessen komme, begleitet von einer aufmunternden vertikalen Geste mit der flachen Hand, der steile Aufstieg dauere circa „cuarenta minutos“. Deshalb sitzen wir recht verzagt beim Mittagessen, das – obwohl die vegetarische Variante, bestehend aus Reis, Mais, Salat und Gemüse, wirklich lecker ist – uns nicht recht schmecken will – die Vorstellung dessen, was kommen mag, ist beunruhigend. Es ist auch tatsächlich ein steiles Stück Weg durch den Wald, aber zum Glück mit einer Andeutung von Serpentinen. Man kann es schaffen, ich wieder mit vielen kurzen Pausen, die ich aber aufholen kann. Stolz sammeln wir uns danach auf einem Hangabsatz. Der Rest ist „más o menos plano“ (eher „menos“…), es geht mit einigen weiteren Anstiegen um einen Teil des Berges herum. Das Tal liegt tief unten. Die Höhenmesser zeigen an, dass wir das heutige Pensum (fast) geschafft haben. Ich bin glücklich. Ronaldo beginnt auf dem letzten Stück zum „Base Camp“ ein Gespräch mit mir an und fragt unter anderem, wie alt ich sei – er ist überrascht über die Antwort und teilt mir freundlich mit, er habe mich auf 65 geschätzt, „por el color de tu pelo“…darüber bin ich etwas erschüttert und für den Rest der Tour damit beschäftigt, diesen unerwarteten Alterungsprozess zu verdauen. Ich hatte mich gerade so jung gefühlt!
Das „Base Camp“ knapp oberhalb der Baumgrenze auf ca 3.600 Metern Höhe ist sehr „basic”. Es besteht aus einer Reihe von „Zelthütten“ aus festen Plastikplanen, jeweils für vier, fünf Personen, die auf einer in den Hang gegrabenen Plattform nebeneinander angeordnet sind, die Eingänge zum Tal, einem hölzernen Verschlag, ebenfalls offen zum Tal, mit groben Baumstämmen zum Sitzen, und einem Plumpsklo ein paar Schritte weit weg. Jeweils in einiger Entfernung etwas tiefer und etwas höher befinden sich ebensolche Camps anderer Tourenanbieter. Das Camp liegt bei unserer Ankunft in dichten, kalten feuchten Wolken. Weder vom Tal noch von dem gegenüberliegenden „Volcán Fuego“ ist das Geringste zu sehen. Wir unterhalten uns eine Weile mit Ronaldo über Guatemala, während er Unmengen von Softdrinks und Süßkram vertilgt. Trotz der minimalen Sicht und zunehmend bitteren Kälte machen sich dann bei Einbruch der Dunkelheit der nette Niederländer und der schweigsame Österreicher mit Ronaldo auf, um noch weiter in die Nähe des Kraters des „Fuego“ zu wandern, je Strecke 400 Meter abwärts und 400 Meter aufwärts, etwa vier, fünf Stunden, mit dem Risiko, nichts zu sehen – wir anderen halten das für eine „tontería“, ziehen uns alle Lagen mitgebrachter Kleider an, frieren trotzdem, sammeln uns um das Feuer, das Esbin entzündet hat und das uns mit dichten Rauchwolken umhüllt, bis die Augen brennen, essen köstliche Nudeln mit Butter, erwärmt in einem gewaltigen Topf auf dem Feuer („Pasta al parmigiano“, wie die Italienerin schwärmt) und schlüpfen gegen halb acht bei schwarzer Nacht und Nieselregen – ohne uns auszuziehen, nach einem nicht sehr erfreulichen Besuch des Klos – in unsere Schlafsäcke. Leider sind diese hintereinander aufgereiht, so dass ich an der Rückwand dringlich hoffe, nachts nicht das Klo aufsuchen zu müssen. Es fühlt sich merkwürdig an, mit wildfremden Menschen in einem kleinen Zelt zu schlafen…

Esbin, der das Feuer bewacht hat, reißt mich gegen neun Uhr aus tiefem Schlaf: „Chicas! El fuego!“ –Wir öffnen den Zelteingang, eisige Nachtluft strömt in das Zelt – und oh: Es hat überraschend aufgeklart, im Nachthimmel um uns hängen groß und nah die Sterne, und an der Spitze des schwarzen Nachbarkolosses „Fuego“ wölbt sich ein Glutgebilde. Die nette Engländerin berichtet später, sie habe unmittelbar zuvor ein leises „Plopp“-Geräusch gehört – offenbar eine Explosion im Inneren des Vulkans! Mit vor Kälte zitternden Fingern machen wir viele wilde Photos in die Nacht hinein und kriechen dann – zufrieden – in die Schlafsäcke zurück. Kurz darauf kehren auch die drei Herausforderer des Nachbarvulkans zu den Klängen von „We are the Champions“ ins Camp zurück: Sie haben die glühende Lava aus der Nähe gesehen, ihre Extra-Tour war also ein voller Erfolg!
Der nächste Weckruf erreicht uns um 3.20 Uhr. Als erste Gruppe von allen umliegenden Camps machen wir uns mit vielen Lagen Kleidung und Stirnlampen auf, den Krater des Acatenango zu erklimmen. Im Lichtkreis der Lampen sehen wird zum Glück immer nur den nächsten Schritt (bei unserer Rückkehr erweisen sich die Wege als unwegsam und abgrundnah…). Wir überqueren ein weites, knirschendes Lava-Kiesel-Feld, dann kommt ein felsiges Stück, über das man bei pfeifendem Wind klettern muss, aber der Gipfel zeichnet sich über uns schon als kahler schwarzer Umriss vor dem Nachthimmel ab. Wir erreichen ihn als erste, während unter uns die Gruppen aus anderen Camps wie Reihen von Glühwürmchen durch die Nacht kriechen. Eisiger Wind weht oben auf dem Kraterrand. Plötzlich hört man Rufe: „El sol! El sol!“ – und tatsächlich: Im Osten zeichnet sich ein heller Schimmer ab, dann ein goldener Streifen zwischen den Wolken, er wird intensiver, orangeleuchtend…Ich muss mich gegen den Wind hinter der Böschung des Kraterrandes schützen. Wandere mit einigen wilden Hunden ein wenig durch den Krater, der etwa hundert Meter Durchmesser hat, von dunklem Lavageröll gefüllt ist, mit etwas Müll (Schnapsflaschen, vielleicht Opfergaben?). Als ich zurückkehre, erleidet die Italienerin aus der Gruppe eine Art Panikanfall vor Kälte, sie wimmert und hyperventiliert, im Wind stehend, unfähig, Schutz zu suchen, und zittert vor Kälte. Wir führen sie in den Windschutz, jemand hat noch eine Dauenjacke, die nette Engländerin wärmt sie von hinten, sie beruhigt sich. Es sollen schon Touristen hier oben erfroren sein, hat Ronaldo gestern erzählt…


Als wir zurückwandern, ist es Tag. Der Abstieg – eigentlich Abrutsch – dauert nur eine halbe Stunde. Im Camp bekommen wir heiße „chocolate“ und Brot mit Rührei, das tut sehr gut. Die Sonne scheint, das Tal liegt lieblich in der Tiefe. Wir plaudern und sind stolz. Dann wandern wir zufrieden Richtung Tal. Ich rutsche etwa zwanzigmal auf dem Geröll aus und liege dann wegen des schweren Rucksacks im Sand wie ein Käfer, der mit den Beinen strampelt. Aber das ist nur halb so schlimm: Runter geht immer. Fazit: Ich hab’s geschafft, bin unerwartet um Jahre gealtert, um einige eindrückliche Erinnerungen und nette Gespräche reicher – und froh, dass es vorbei ist. Den entgegenkommenden Wanderern habe ich abrutschend fröhlich: „buena suerte“ gewünscht…
