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#56 | Militärdiktatur II (Chile)

[Santiago] Wie in Argentinien (vgl. Blog #45) – und in den meisten lateinamerikanischen Staaten – hatte auch Chile eine Militärdiktatur, die das Land bis heute spaltet. Anders als in Argentinien erscheinen die Erinnerungsarbeit und das Gedenken jedoch viel breiter verankert. Auch eine von rechts betriebene Revision der Geschichtsschreibung, wie sie mit der Schließung und Neubewertung von Gedenkstätten in Argentinien unter Milei betrieben wird, ist hier (noch?) nicht feststellbar.

Pinochet, sitzend

Das chilenische Militär unter Augusto Pinochet putschte sich im September 1973 mit massiver Unterstützung der USA (CIA-Dokumente wurden 2020 freigegeben) an die Macht und installierte von Tag eins an ein brutales Terrorregime, das sich gegen alles richtete, was links war oder als links denunziert wurde. Insgesamt geht man von über 30.000 Folteropfern und ca. 3.000 Morden bzw. „Verschwundenen“ aus. Gestürzt wurde die Regierung von Salvador Allende, der als linker Kandidat 1970 demokratisch gewählt worden war. Pinochet blieb bis 1990 als Diktator an der Macht und wurde bis zu seinem Tod 2006 nicht zur Rechenschaft gezogen. Seit 1990 wird Chile demokratisch regiert.

Zentraler Gedenkort in Santiago ist das „Museo de la Memoria y los Derechos Humanos„, das 2010 eröffnet worden ist. Wir haben mehrere Stunden in dem sehr gut gestalteten Museum verbracht, das sowohl den Putsch selbst als auch die Repression in den Nachfolgejahren dokumentiert. Berührend ist auch die (letzte) Rede des im Präsidentenpalast eingeschlossenen Präsidenten Allende, die spontan über den letzten funktionsfähigen Radiosender Magallanes ausgestrahlt wurde. Der Redetext gilt in Chile zu Recht als demokratischer Meilenstein. Wenige Stunden später war Allende tot. Und wie so oft wird das Grauen konkret und die Erinnerung lebendig, wenn es um konkrete Menschen geht: daher ist die Dokumentation von persönlichen Biographien und die Gedenkinstallation mit Fotos der „Verschwundenen“ und Ermordeten so eindringlich.

Darüber hinaus finden sich in der Stadt eine Vielzahl von Gedenkorten. Von denen, die wir besucht haben, haben uns besonders berührt:

Die Hintertür der Moneda (Präsidentenpalais), durch die die Leiche von Allende am 11. September 1973 abtransportiert wurde sowie eine Bodenplatte, die die letzten Verteidiger der Demokratie in der Moneda namentlich nennt. Die Türe wurde später zugemauert und „verschwand“, bis man sie nach der Ära Pinochet wieder öffnete und zum Gedenkort machte.

Eines der Folterzentren des Militärregimes in der Innenstadt lag in einem Stadthaus in der Straße Londres 38. Hier wurden mehrere Hundert Menschen zwischen September 1973 und Ende 1974 interniert und gefoltert. Nachdem andere Standorte ausgebaut worden waren, verlor das Zentrum an Bedeutung. Später versuchte man den Ort „verschwinden“ zu lassen, indem man die Hausnummer veränderte. Seit 2005 hat das Haus den Status als Gedenkstätte. Vor dem Gebäude sind die Namen vieler Opfer in Gedenksteinen im Boden verlegt (ähnlich wie die „Stolpersteine“ in Deutschland). Die Mehrheit der Opfer war zwischen 20 und 30 Jahren alt.

Eine Besonderheit ist die Villa Grimaldi, die vom Geheimdienst über Jahre für die Internierung, Folter, Ermordung und „Verschwindenlassen“ von Regimegegnern benutzt worden ist. Ursprünglich ein prächtiges Landhaus am Fuße der Anden, in den 60er-Jahren ein Gasthaus „Paraíso“, ab 1973 nach Enteignung dann die Hölle für mehrere Hundert Menschen. Das Haus wurde ausgewählt, weil es hinter Mauern lag, in der Nähe eines Flugfeldes (viele Opfer wurden mit Hubschraubern über dem Pazifik abgeworfen) und in der Nähe einer militärischen Kommandostelle des Geheimdienstes lag. Gegen Ende der Militärdiktatur verkaufte einer der Direktoren des Geheimdienstes CNI, Hugo Salas Wenzel, das Gebäude an ein Unternehmen, das überwiegend Familienmitgliedern und Freunden gehörte. Die Folterstätte wurde in der Folgezeit größtenteils abgerissen und sollte „verschwinden“, indem die private Projektgesellschaft Wohnungen auf dem Gelände errichten sollte. Das konnte in den frühen 90er-Jahren durch zivilgesellschaftliche Intervention und Gerichtsbeschlüsse verhindert werden, so dass 1994 ein Gedenkpark („Parque por la Paz Villa Grimaldi“) eingerichtet werden konnte. An der Eröffnung nahm die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet teil, die mit ihrer Mutter selbst 1975 in dem Foltergefängnis festgehalten worden war.

Konzentrationslager hat das Regime ab dem ersten Tag des Putsches in Stadien der Stadt eingerichtet, eines der größten im „Estadio Chile„, wo etwa 5.000 Personen interniert wurden. Unter ihnen auch der bekannte linke Sänger Victor Jara, der in dem Stadion gefoltert und ermordet wurde. Das Stadion trägt heute seinen Namen („Estadio Victor Jara„) und eine kleine Stiftung erinnert an die Geschehnisse und das politische Wirken des Sängers. Sein letztes Gedicht „Somos Cinco Mil„, das er kurz vor seinem Tod im Stadion verfasste, ist als Wandinstallation im Eingangsbereich des Museo de la Memoria zu sehen.

Plakat von Klaus Staeck, 1973

Wer sich fragt, welche Position (West-) Deutschland damals eingenommen hat, wird auf einen ernüchternden Opportunismus bei der SPD (Bundeskanzler Brandt) und eine harte rechte Ideologie bei der CDU/CSU stoßen. Franz-Josef Strauß (CSU) sollte zu einem der engsten Verbündeten (und Geschäftspartner) von Pinochet werden, wenige Tage nach dem Putsch erklärte er öffentlich in Bezug auf den gewaltsamen Putsch: „Das Wort Ordnung hat für die Chilenen wieder einen süßen Klang“. Der Vorsitzende des Bundestagsausschusse für humanitäre Fragen (!), Bruno Heck (CDU), erklärte anläßlich eines Vorort-Besuchs knapp vier Wochen nach dem Putsch, dass das Leben der politischen Gefangenen im Nationalstadion in Santiago als „bei sonnigem Wetter recht angenehm“ sei (Süddeutsche Zeitung). Viele (west-) deutsche Firmen sahen in dem autoriätren Regime, das für eine neoliberale Wirtschaftspolitik stand, optimale Rahmenbedingungen für Investitionen. So stiegen die deutschen Direktinvestitionen in Chile sprunghaft an und stabilisierten das Regime auf ihre Art. Typisch für die Zeit ist die Erklärung des deutschen Chemiekonzerns Hoechst: „Die Regierung Allende hat das Ende gefunden, das sie verdiente… Chile wird in Zukunft ein für Hoechster Produkte zunehmend interessanter Markt sein“ [Quelle].

Warum das 2025 noch „sehenswert“ bzw. lesenswert ist? Weil einem nochmal sehr deutlich wird, dass die Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist und jederzeit unter Druck geraten kann. Es bedarf der aktiven Verteidigung und Rückgewinnung durch mutige und standhafte Menschen; Institutionen für sich genommen sind leere und wehrlose Gebilde. Auf der anderen Seite finden sich offenbar immer Menschen, die mit geringen Hemmschwellen zu maximaler Gewalt fähig sind. Es ist wichtig, dass diese Täter – notfalls auch Jahrzehnte später – sich juristisch verantworten müssen (wie es erst 2023 endlich mit einem der Mörder von Victor Jahre geschehen ist, der 30 Jahre unbehelligt in den USA leben konnte). Und schließlich: Die Kämpfe um gesellschaftliche Ressourcen und wirtschaftliche Macht werden im Extremfall mit offener Gewalt ausgetragen. Ein wesentlicher Akteur dabei waren damals die Vereinigten Staaten von Amerika und es gibt aktuell wenig Anlass zu vermuten, dass das nicht heute wieder der Fall sein kann. Chile steht zwar für eine lange, stabile Militärdiktatur; aber Chile steht auch für die Erkenntnis, dass nichts ewig währt und politischer Widerstand sich am Ende auszahlt.

„iNunca más!“ heißt es in Chile, „Nie wieder!“ in Deutschland. Und leider gilt heute: „Nie wieder ist jetzt!“ – „iNunca más es hoy!“.

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