
[Santiago de Chile] In Santiago sind wir mit etwas Glück im Viertel Lastarria untergekommen. Nachts um 3:30h sieht das Ganze ziemlich einsam aus, allerdings erwacht das bunte und trubelige Viertel dann im Laufe des Vormittags zu einem sehr sympathischen Leben. Viel Straßenmusik, viele gute Cafés, eine Menge Kultureinrichtungen um die Ecke (u.a. Museo de Artes Visuales und das riesige Kulturzentrum Gabriela Mistral) sowie eine Vielzahl von Straßenverkäufer*innen, die Schmuck, Kleider und mehr anbieten. Santiago wirkt im direkten Vergleich mit Buenos Aires etwas aufgeräumter und wohlhabender, hier wie dort sind allerdings indigene oder schwarze Menschen so gut wie nicht in der Innenstadt anzutreffen (etwas weiter außerhalb wie etwa beim alten Bahnhof „Estacion Central“ ändert sich das dann gemäß der alten sozialen Regel: je geringer der Sozialindex der Gegend, desto mehr Minderheiten). Die Stadt wirkt fast noch europäischer als Buenos Aires, auch das Klima ist zumindest im Februar 2025 deutlich gemäßigter. Das mag auch an den Bergen liegen, die eine imposante Kulisse für diese 6-Millionen-Metropole bieten.
Bereits am ersten Tag machen wir eine Stadttour mit Hector, einem chilenischen Politikstudenten, der uns durch die Stadt und ihre Geschichte führt. Es kommt zu einem Déjà-Vu: ähnliche Kolonialgeschichte (spanische Gründung 1541, Vertreibung der indigenen Bevölkerung, ständische Elitenbildung) und ähnliche Nationalstaatsbildung (Sieg über die Spanier 1818, u.a. unter Führung des argentinischen Generals San Martin). Wie in Argentinien münden die Freiheitskriege im 19. Jahrhundert in der Freiheit einer kleinen europäisch-stämmigen Elite, die alle relevanten gesellschaftlichen Positionen besetzt, ein allgemeines und gleiches Wahlrecht für die breite Bevölkerung verhindert und auf die sich die wirtschaftliche Macht konzentriert. Im 20. Jahrhundert weist Chile wie Argentinien die Erfahrung einer Militärdiktatur auf, die sich mit Pinochet allerdings deutlich länger an der Macht halten konnte als im Nachbarland (von 1973 bis 1990).
Im Unterschied zu Argentinien wird das Land aktuell von einem dem linken Spektrum entsprungenen Präsidenten geführt: Gabriel Boric, ehemals Studierendenführer, 2021 mit 35 Jahren zum jüngsten Staatsoberhaupt gewählt. Boric verfolgt klassische linke Positionen (Minderheitenrechte stärken, Sozialreformen umsetzen, Besteuerung leistungsgerecht umgestalten, staatliche Krankenversicherung aufbauen etc.). Er wirkt wie das Gegenprogramm zum Anarcho-Kapitalisten Milei auf der anderen Seite des Kontinents.

Aber auch in Chile weht ein rauerer Wind von rechts: weder konnte sich der progressive Entwurf für eine neue Verfassung 2022 durchsetzen (den Boric unterstützte) noch konnte das Erstarken der rechtsnationalen Kräfte in Chile verhindert werden. Symbolisch mag der Gewinn der zentralen Kommune Santiago-Stadt (des zentralen Stadtbezirks) sein, wo Mario Desbordes als Kandidat der Renovación Nacional (RN) die kommunistische Bürgermeisterin Irací Hassler besiegen konnte und seit Dezember 2024 Bürgermeister ist. Eine der ersten Amtshandlungen war ein Musterbeispiel des rechtspopulistischen Kulturkampfes: vor dem Rathaus hingen bislang vier Flaggen: die von Chile, die von Santiago, die der indigenen Mapuche (größte Minderheit in Chile) sowie die Regenbogenflagge. Seit Januar 2025 hängen auf Geheiß des rechten Bürgermeisters nur noch zwei Flaggen an vier Stangen: die Flagge der Mapuche sowie die Regenbogenflagge wurden abgehängt. Auch auf dieser Seite der Welt und der Anden findet also der international vergleichbare Kulturkampf der Rechten gegen Minderheiten, Diversität, Toleranz und Gleichberechtigung statt. Die nächsten Wahlen stehen Ende 2025 an und sind aktuell völlig offen.
Immerhin stehen die Skulptur zur Ehrung der Mapuche noch auf dem zentralen Plaza de Armas gegenüber vom Rathaus. Und am Präsidentenpalais steht noch das Denkmal für den ehemaligen Präsidenten Salvador Allende, der 1973 als gewählter linker Präsident durch Pinochets Militärputsch gestürzt wurde und starb.


Aber auch jenseits der leidigen Politik bietet die Stadt viel Schönes und Anregendes. Das reicht vom Straßengraffiti über die guten Weine bis zu den diversen Kultureinrichtungen (wie dem Museo Nacional de Bellas Artes oder dem Haus „La Chascona“ des Schriftstellers Pablo Neruda).



