[Argentinien] Als der – aus argentinischer Sicht – Große Vaterländische Krieg auf der Südhalbkugel ausbrach, hatten wir gerade Englisch. Ich war in der „Untersekunda“ (10. Jahrgang) und unsere Englischlehrerin Frau Utz hatte das Sagen. Frau Utz kam bei jedem Wetter mit einem schwarzen Hollandrad in die Schule. Auf dem Gepäckträger war der Karton mit ihren Schulunterlagen, sie trug ihr graues Haar stramm nach hinten in einem harten Dutt und eine gestärkte weiße Bluse am mächtigen Oberkörper. Ihre Erscheinung gewann aber noch zusätzlich an Gewicht durch ein glockenartiges Kleid, das hoch über den Hüften ansetze, sich weit nach außen wölbte und dann im rechten Winkel (fast) auf dem Boden aufschlug. Diese Studienrätin aus einem anderen Jahrhundert hatte eine klare Meinung zur Weltlage. So auch an jenem Montagmorgen des 3. Mai 1982: England hatte das argentinische Kriegsschiff „General Belgrano“ von einem Atom-U-Boot aus versenkt, 323 argentinische Seeleute kamen dabei ums Leben.
An Englisch war nicht zu denken. Frau Utz hatte trotz ihres Anglistikstudiums eine ausgesprochen kritische Haltung zu der britischen Aggression und dem aus ihrer Sicht überkommenen Kolonialsystem der Briten. Ich hatte – wie die Mehrheit der Klasse – erst im Atlas nachschlagen müssen, um welchen Erdteil da im südlichsten Atlantik gestritten wurde und keine dezidierte Meinung zum Falklandkrieg, ein Streit um ein paar felsige Inseln etwas nördlich der Antarktis. In Erinnerung bleibt mir von diesem Tag aber ihre Vehemenz, mit der sie die kriegerische Eskalation und den Streit zwischen zwei „erwachsenen Ländern“ verurteilte. Heute weiß ich erst warum.
Auf unserer Reise durch Argentinien im Jahr 2025 stoßen wir allerorten auf die „Malvinas“ (engl.: Falklandinseln) als unverzichtbarer Bestandteil Argentiniens. Vor dem Verteidigungsministerium in Buenos Aires steht ein mächtiger Soldat mit beiden Beinen auf dem Umriss der Inseln, die dafür eine optimale Form haben. Auf den Bussen der Hauptstadt finden sich exponierte Aufkleber, die den unbedarften Fahrgast daran erinnern, dass die Malvinas argentinisch sind (was sie aktuell eher nicht sind). Der aktuelle Webauftritt der argentinischen Regierung lässt die Inselgruppe in den nationalen Farben blau-weiß erstrahlen … auf dem Hauptplatz in Mendoza wird unter zwei argentinischen Flaggen der Helden aus Mendoza gedacht, die im Kampf um die Malvinas fielen. In der Summe waren es am Ende (insgesamt auf beiden Seiten) knapp tausend Tote.



Knapp tausend Tote für eine Inselgruppe, die 1600 von einem Niederländer entdeckt wurde, aber mangels Interesse erst 1690 von einem Engländer einen Namen erhielten: „Falkland“. 1764 gründet ein Franzose eine Kolonie, die aber offenbar so unwirtlich war, dass Frankreich sie bereits 1766 an Spanien verkaufte. So ging das über Jahrzehnte und Jahrhunderte weiter, keiner hatte wirklich Interesse an den Felsen, das Einzige, was dort gedieh, waren ein paar wilde Stiere und sehr viele friedliche Schafe. Mitte des 19. Jahrhunderts setzen sich die Briten mit ein paar Mann durch und siedeln dann für weitere hundert Jahre friedlich im Windschatten der Weltgeschichte: Argentinien konzentriert sich auf seine Südexpansion und vertreibt die Urbevölkerung (u.a. der Mapuche) aus den riesigen Gebieten Patagoniens; England konzentriert sich derweil auf wärmere und ergiebigere Ecken seines Commonwealths. Erst im Rahmen der Debatten um Entkolonialisierung kam es 1965 zu Verhandlungen zwischen Argentinien und Großbritannien über die Zukunft der Inselgruppe. Als problematisch erwiesen sich die „Falkländer“: um1960 wohnten tatsächlich fast 2.000 Menschen auf den Felsen zwischen all den Schafen und die wollten ganz überwiegend britisch bleiben (die Menschen).
1975 war es dann politisch so weit, dass die Labor-Regierung grundsätzlich zu einer Abgabe der Inseln bereit war. Die argentinische Regierung unter Isabel Peron traute dem brititischen Angebot einer mehrjährigen Übergangsphase der gemeinsamen Entwicklung aber nicht und ließ die Chance vorbeiziehen. Ihr Pech, denn kurze Zeit später putschte 1976 erst das Militär in Argentinien (damit war jede Chance auf eine Mehrheit für einer Souveränitätsübertragung zulasten der Bürger auf den Inseln in England geschwunden) und dann kam 1979 die „Eiserne Lady“ Thatcher an die Macht. In dieser (erneuten) Pattsituation machte die Militärjunta den Fehler, von der innenpolitischen Lage ablenken zu wollen. Wenn man intern nicht weiterkommt, dann sucht man extern Feinde und Erfolge. Die argentinische Invasion erfolgte am 2. April 1982, beim Kampf um Port Stanley starb ein Soldat. In Buenos Aires feierten Menschenmassen am Tag darauf die Militäraktion. In beiden Ländern baute sich in kürzester Zeit ein hoher öffentlicher Druck auf, der die Malvinas/ Falklandinseln zur prioritären nationalen Frage machte. Ab dem 1. Mai startete England seine Gegenoffensive, am 2. Mai wurde das argentinische Kriegsschiff General Belgrano versenkt und am 21. Mai mit der Rückeroberung der Falklandinseln begonnen. Am 14. Juni endete der Krieg nach 72 Tagen mit der vollständigen Niederlage Argentiniens. 253 Briten und 655 Argentinier verloren bei diesem Waffengang ihr Leben.
Seitdem haben die Falklandinseln den Status eines virtuellen Kronjuwels auf britischer Seite und in Argentinien will die nationale Wunde auch 43 Jahre später nicht heilen, angesichts der o.g. Propaganda wird sie sich auch kaum schließen können. 1982 konnte man auf der Nordhalbkugel noch darüber lächeln, was sich eine alte Kolonialmacht und ein paar alte Militärs in Buenos Aires für Scharmützel am Ende der Welt lieferten. Der Mechanismus der nationalistischen Radikalisierung einer vorher völlig randständigen Angelegenheit, der erst auf argentinischer und dann auf britischer Seite ausgelöst und bespielt wurde, ist aber leider zeitlos. Das gilt auch für die Rolle der jeweils nationalen Medien in der Mobilisierung einer Kriegsbegeisterung in breiten Bevölkerungsteilen. Heute können wir leider auch auf der Nordhalbkugel und deutlich näher an den eigenen Grenzen beobachten, wie niedrig die Hemmschwelle für militärische „Operationen“/ Invasionen geworden ist.
Leider ist die Empörung einer Frau Utz über das sinnlose Sterben und die Dominanz einer militärischen Logik in politischen Konflikten heute so selten wie damals.
Heute sind die Falklandinseln ein sogenanntes britisches Überseegebiet mit innerer Autonomie. Bewohnt werden sie heute von knapp 3.000 Menschen und Hunderttausenden Schafen. Die letzte relevante Meldung von den Inseln gab bekannt, dass nirgendwo auf der Welt länger im Internet gesurft wird als auf den Falklandinseln [Quelle] …