[Buenos Aires] Ein Drittel der gut 46 Mio. Argentinier*innen lebt im Großraum Buenos Aires (15,3 Mio.). Wie zu erwarten, sind die sozialen Gegensätze und das Ausmaß an städtischer Armut in Großstädten wie Buenos Aires höher als in ländlichen Regionen. Und doch stockt einem teilweise der Atem, wenn man extreme Armut und extremem Reichtum so direkt nebeneinander erlebt, vermutlich ist das in asiatischen Großstädten ähnlich, in Städten wie Washington und New York lassen sich ähnliche Beobachtungen machen.
Und doch: Die Armutsquote in Argentinien lag im ersten Halbjahr 2024 in städtischen Gebieten bei 53%, d.h. mehr als jede*r Zweite lebt unterhalb der Armutsgrenze. Bei Rentner*innen ist die Entwicklung am drastischsten: dort hat sich die Armutsquote landesweit von 13% in 2023 auf 31% in 2024 erhöht. Die Kürzung der Renten war eine der Hauptmaßnahmen zur Haushaltskonsolidierung der Regierung Milei im Jahr 2024, die Kürzung erfolgte bis Mitte 2024 in einer Höhe von 25,8%. [Quelle]. Das Preisvniveau liegt ungefähr auf dem Niveau Spaniens, allerdings ist der Mindestlohn in Spanien um das Achtfache höher. Der Mindestlohn für eine Vollzeitstelle beläuft sich in Argentinien auf 243.315 Pesos im Monat (Stand ab 1.06.2024), das sind etwa 214,-€ im Monat bzw. 53,-€ die Woche bzw. 10,60€ den Tag bzw. 1,325€/ Std. … bei einem europäischen Preisniveau!
Im Ergebnis bildeten sich über Jahre hinweg slumähnliche Strukturen mitten in der Hauptstadt, sog. „Villas Miserias„. Touristen kommen fast unweigerlich an der „Villa 31“ vorbei, die direkt hinter dem Bahnhof Retiro liegt und auf dem Weg zum Busbahnhof. Diese Stadt in der Stadt liegt zwischen Bahngleisen, Hafen und Bahnhof, ein Steinwurf entfernt vom mondänen Hafen „Puerto Madero“, in dem seit 20 Jahren ein neues Edelviertel an Hochhäusern und Wohntürmen mit Etagenpools etc. hochgezogen wird.
Ähnlich unvermittelt und direkt stoßen die „Villas“ auf den etwas weiter entfernt liegenden Brachen auf die bürgerliche Welt, wie etwa im Viertel San Isidro, wo sich die sog. „La Cava“ aus Armenhäusern und Hütten gebildet hat. Prompt sollte 2009 bereits eine 3 Meter hohe Mauer die Armensiedlung von den Gärten und Pools der Schönen und Reichen trennen; das wurde damals gerichtlich untersagt. Es wäre auch naheliegender, an den Ursachen und nicht den Symptomen zu arbeiten … allerdings ist Argentinien mit dieser Strategie des „Aus den Augen aus dem Sinn“ nicht alleine: was in San Isidro 2009 als die „Wall of Discord“ bekannt wurde, war in Peru bereits in den 80er-Jahren als „Wall of Shame“ Praxis: dort trennte bis 2023 eine 13 Kilometer lange und 3 Meter hohe Mauer den gleichnamigen Bezirk San Isidro vom Armenviertel El Agustino. Auch hier erwies sich die Mauer nicht als tragfähige Lösung, weder der Probleme noch der Symptome [Quelle]. Trump dürfte diese Erfahrung noch bevorstehen…
Vorstufen dieser städtbaulichen Manifestation sozialer Abstiege und städtischer Armut sind sozialräumliche Prozesse in der Innenstadt, wo Immobilienspekulation und Mietwucher auf dem gelobten „freien Markt“ zur Verdrängung von Mieter*innen führen. Diese „Gentrifizierung“ lässt sich in Buenos Aires am deutlichsten im hippen Szenebezirk „SOHO“ in Palermo beobachten, wo abgesehen von teuren Shops, Cafés, Tango-Bars, bunter Streetart (und Massen an Touristen) vor allem die verräterischen airbnb-Schlüsselkästen zeigen, dass hier kaum noch „normale“ Menschen mit „normalen“ Einkommen leben (können). Einen extremen Schub hat der Mietenmarkt bekommen, als Milei die Mietgesetze 2024 in Argentinien schlicht gekippt hat. Damit gab es zwar plötzlich erheblich mehr Immobilien auf dem Markt, aber eben nur für die, die sich die exorbitanten Mietsteigerungen leisten konnten. Einer Studie Ende letzten Jahres ermittelte Mieterhöhungen von 52% in Buenos Aires, der Mietpreis für eine 1-Zimmer-Wohnung ging alleine im September um 4,4% in die Höhe [Quelle].
Während sich die Gentrifizierung im Bezirk Palermo SOHO über ein gutes Jahrzehnt hinweg durchgesetzt hat, ist der Kampf in angesagten Bezirken wie La Boca (dem „Arbeiter*innen“-Viertel) noch nicht entschieden. Hier wehrt man sich zwar nicht gegen die Devisen der Tagestouristen, die dicht gedrängt „Calle Museo Caminito“ (eine 100 Meter lange Straße mit bunten Häusern und Verschlägen) ablaufen und Selfies produzieren. Gegen Ketten wie Starbucks oder Immobilienspekulationen und Kündigungen wehrt man sich auf Basis praktizierter Solidarität untereinander sowie genossenschaftlicher Strukturen, die die günstigen Mietwohnungen nur an Bewohnter*innen von La Boca und ihre Verwandten weitergeben. Sicher auch nicht das Ideal einer gerechten Welt, aber bislang wirksam gegen die drohende Gentrifizierung.
Die neo-liberale bzw. steinzeit-liberale Wirtschafts- und Sozialpolitik von Javier Milei verschärft die Gegensätze in Buenos Aires und Argentinien ebenso wie sie die neue Oligarchie von Trump & Musk in den USA oder die Mini-Trumps Weidel (noAfD) und Möchte-gern-Mileis Lindner (noFDP). Wenn der Pseudo-Anarcho-Kapitalist Christian Lindner „Mehr Milei wagen!“ für Deutschland fordert (wie Anfang Dezember geschehen), dann wünscht man ihm mal eine Woche in der „Villa 31“ oder in „La Cava“.