[Conil de la Fronterra / Europa] Wir sitzen hier in einem kleinen weißen Dorf an der Südküste Andalusiens und nichts, wirklich nichts deutet auf größere europäische oder gar historische Zusammenhänge. Es gibt einen alten Turm (de Guzmán), ein paar alte Viertel, viel Sonne, Strand und Wind. Conil hatte über Jahrhunderte noch nicht einmal einen Hafen, die Fischer hatten ihre Boote bis in die 80er-Jahre am Strand liegen. Und dennoch: wie so oft liegen auch hier die Gespinnste der Vergangenheit herum und man muss nur wenig Mühe investieren, um dieses Dorf mit geschichtsträchtigen Ereignissen in Verbindung zu bringen.
Zum Hintergrund muss man wissen, dass mit der „Entdeckung“ der Amerikas der atlantische Seehandel des Kontinents zu einem erheblichen Teil über Sevilla bzw. Cadiz abgewickelt wurde. Zudem kontrolliert man mit dem andalusischen Süden die Überfahrt nach Afrika sowie die Ein- und Ausfahrten auf der Seestraße von Gibraltar. Entsprechend umkämpft war die Region über Jahrhunderte. In der jüngeren Vergangenheit fanden etwa alle hundert Jahre bedeutsame Schlachten um Cadiz statt: um 1600 herum (1596) wurde die Stadt im Rahmen des englisch-spanischen Krieges geplündert, um 1700 herum (1702) scheiterten die Engländer mit den verbündeten Niederländern im Rahmen des spanischen Erbfolgekrieges in der „Schlacht um Cadiz“. Und um 1800 herum (1805) hatten die Engländer die napoleonische Flotte in Cadiz blockiert und ihr Ausbruch führte in die – für Napoleon – fatale Schlacht vor Trafalgar. Weitere 140 Jahre später ließ Franco auf Wunsch Hitlers die gesamte Südküste mit einer Bunkerlinie sichern, um so die Straße von Gibraltar kontrollieren und eventuelle Landungsversuche der Alliierten abzuwehren.
Das kleine Conil weist – abgesehen von im Sand versinkenden Bunkern aus dem Zweiten Weltkrieg – Bezüge zu zwei bedeutsamen Schlachten der europäischen Geschichte auf: Entgegen allen Kenntnissen, die wir in der Schule erworben haben, fand die Schlacht von Trafalgar nicht vor dem Kap Trafalgar statt, sondern direkt vor der Küste von Conil. Am 21. Oktober 1805 stieß die Flotte von Admiral Nelson (England) auf die französisch-spanische Flotte und zerrieb diese innerhalb von 10 Stunden. Wie man den Lageplänen der Seeschlacht entnehmen kann, lag das Kampfgebiet nicht vor Trafalgar, das vermutlich als nautische Marke zum Referenzpunkt der Schlacht wurde (und weil Trafalgar-Square irgendwie besser klingt als Conil-Square). Nach der Niederlage in der „Schlacht von Conil“ musste Napoleon seine Pläne zur Überquerung des Ärmelkanals und zur Invasion Englands endgültig aufgeben und England hatte sich für die nächsten 100 Jahre die Vormachtstellung als Seemacht gesichert.
An der geplanten Idee einer Invasion nach England sind nicht nur Napoleon im 19. Jahrhundert und Hitler im 20. Jahrhundert gescheitert. Pionier des Scheiterns war Spanien im 16. Jahrhundert, als Philipp II 1588 eine riesige spanische Flotte („Armada“) gegen England sandte. Er tat dies etwas verspätet, weil der ehemalige Pirat und später geadelte Vize-Admiral Francis Drake 1587 einen Teil der spanischen Flotte in Cadiz (siehe oben) im Hafen überraschte und zerstörte. Nachdem der vorgesehene Kommandant der Armada im Frühjahr 1588 verstorben war, benannte Philipp II den Herzog von Medina-Sidonia zum Kommandanten der spanischen Armada.
Das Erstaunliche daran: Alonso de Guzmán, der 7. Herzog von Medina-Sidonia hatte keinerlei militärische Expertise oder gar nautische Erfahrungen. Der gegen seinen Willen benannte Herzog war durchaus hellsichtig und schrieb dem König, dass er von Krieg, Seefahrt, den spanischen Kriegszielen und dem englischen Feind keinerlei Ahnung habe, zur Seekrankheit neige, kränklich sei und finanziell nichts zu der Expedition beitragen könne … Der König vertraute jedoch auf seinen Ruf als guter Katholik und stellte ihm lediglich einen Ratgeber zur Seite. Bekanntlich brachten weder der gute Glaube noch der Berater genug auf die Waage, um das Schicksal gnädig zu stimmen: Die Armada stieß im Ärmelkanal auf die englische Flotte und lieferte sich eine Woche lang mehrere Schlachten, in denen die Briten aufgrund besserer Waffentechnik, wendigerer Schiffe und besserer Militärausbildung den Sieg davontrugen. Die spanischen Schiffe konnten die niederländisch-spanischen Invasionsgruppen an der niederländischen Küste nicht aufnehmen und traten die Flucht aus dem Ärmelkanal über die fatale Nordroute an. Sie umsegelten England und Schottland im Norden, wo mehr Teile der Flotte im Stürmen und Unwettern verloren gingen als in der Schlacht. Für Spanien war dies der langsame Beginn des Niedergangs als Seemacht. Für den erfolglosen Kommandanten wider Willen hatte die Niederlage jedoch keine größeren Folgen, weder in seinem Ansehen beim Hofe Philipp II noch bei der Verwaltung seiner weitläufigen Güter in Andalusien. Alonso de Guzmán diente noch dem König Philipp III und starb als reicher Mann 1615.
Sein Vorfahre und Namensvetter Alonso Pérez de Guzmán (1256 – 1309) war 300 Jahre zuvor militärisch etwas erfolgreicher gewesen und an strategisch wichtigen Siegen gegen die Mauren in Andalusien beteiligt (u.a. Tarifa und Gibraltar). Er erhielt den Beinamen „Guzmán el Bueno“, weil er vermeintlich heldenhaft bereit war, seinen Sohn zu opfern, den die Belagerer von Tarifa in der Hand hatten. Als Lohn für die militärischen Erfolge erhielt Guzmán von Sancho IV ausgedehnte Ländereien im Süden des Landes und die Rechte am Thunfischfang, was ein stabiles und einträgliches Geschäft war. Ab 1380 erwarb die Dynastie den Titel der Herzöge von Medina-Sidonia, die über Küstenstädte wie Conil und das Hinterland herrschten. In Conil steht noch der Torre de Guzmán als Rest einer Stadtmauer, die das Thunfisch- und Handelsstädtchen Conil umschloss. Für die anreisenden Händler hatten die Herzöge von Medina-Sidonia eine exklusive Herberge errichten lassen, die noch gut erhalten ist, heute allerdings exklusive Eigentumswohnungen beherbergt.
Wenn man so am Torre de Guzmán lehnt und auf das Meer schaut, auf dem die Schlacht von Trafalgar (sprich: Conil) stattgefunden hat, dann kann man mit etwas Anstrengung das Große im Kleinen erkennen. So gesehen hat Conil mal indirekt als Ort (Trafalgar), mal direkt via Lehnsherrn (Armada) Bezüge zur Weltgeschichte, ohne dass diese das dörfliche Leben massiv beeinträchtigt hätten.
Das „Große im Kleinen“ kann man auch im Untergang der Armada erkennen, da dort auf spanischer Seite mehr als nur 69 Schiffe untergingen und über 12.000 Menschen starben. Letztlich trafen im Ärmelkanal zwei grundverschiedene Systeme aufeinander: England war rückblickend aus westlicher Sicht das „modernere“ System, da die Gesellschaft sich dem Leistungsprinzip geöffnet hatte, die Technik systematisch entwickelt und in (Militär-) Produkte umgesetzt wurde und eine systematische Ausbildung betrieben wurde. Die Offiziere waren nach ihrer militärischen Befähigung berufen (das beste Beispiel ist die Karriere des Bauernkindes Francis Drake zum Sir und Vize-Admiral). Die Kanonen waren aus leichterem Material (Bronze), hatten längere Läufe und konnten schneller nachgeladen werden. Die Kanoniere genossen eine Ausbildung an den Kanonen und konnten erheblich schneller und zielgenauer mit den Waffen umgehen. Und schließlich hatten die Schiffe ohne repräsentative Aufbauten (und leichteren Kanonen) weniger Tiefgang und waren dadurch wendiger als die spanischen Schiffe mit den typischen Aufbauten und den Kanonen aus Eisen. Der Herzog von Medina-Sidonia ist als Gegenstück zu Drake das beste Beispiel einer absolutistischen Postenvergabe nach Herkunft und nicht nach Leistung, was für die Postenvergabe in der damaligen spanischen Gesellschaft typisch war (und bis zum Ancien Régime in Frankreich typisch blieb). In der verlorenen Schlacht um die Armada hat sich demnach auch die „Moderne“ durchgesetzt und ihre technischen, administrativen sowie militärischen Vorteile öffentlich für alle sichtbar unter Beweis gestellt. Die Engländer bauten auf dieser Basis ihre Gesellschaft und ihr Herrschaftsgebiet weiter aus, bis es im 19. Jahrhundert in die spezifische Ausprägung von Wirtschaft und Gesellschaft als Kapitalismus mündete. Spanien verpasste diesen Sprung in die Moderne, lebte noch ein paar Jahrhunderte von der Ausbeutung des südamerikanischen Kontinents und fand sich nach Untergang des Kolonialreichs Anfang des 19. Jahrhunderts als vormodernes, agrarisch geprägtes Relikt wieder, das erst mühsam im 20. Jahrhundert wieder an die soziale und wirtschaftliche Moderne aufschließen konnte.
So viel zu den Gedanken im Schatten des Torre de Guzmán in Conil. Die große Weltgeschichte findet eben auch in kleinen Bezügen statt.