Gedanken Kultur Unterwegs

#71 | Grenzerfahrung Bolivien

[Villazon, Bolivien] Wer von Nordargentinien über Salta und Tilcara nach Bolivien fährt, der kreuzt an der Grenze die Orte La Quiaca (Argentinien) und Villazon (Bolivien). Die Städte haben nur einen Straßenübergang und den müssen wir zu Fuß erreichen, da der Busbahnhof von La Quiaca nicht direkt an der Grenze liegt. Schon im Busbahnhof schlägt uns ein Trubel und eine völlig andere Atmosphäre entgegen: überall sitzen Menschen mit Hüten und bunten Kleidern, vielen Kindern und Unmengen von Gepäck, Taschen, Kartons etc. Es ist unklar, ob sie nach Argentinien kommen oder auf dem Weg nach Bolivien sind. Alles wirkt etwas chaotisch, laut und staubig … wir machen uns mit unseren Rucksäcken schnell Richtung Grenze davon.

Da ist eigentlich Argentinien … aber egal!

Dabei kommen alte Erinnerungen an das geteilte Berlin wieder hoch: man nähert sich zu Fuß der Grenze und fragt sich, was einen dort erwartet. In unserem Fall nicht viel: die Argentinier waren gar nicht auf ihrem Posten, die Bolivianer schoben nur ein kleines Papierstückchen in unseren Reisepass (den wir allerdings nicht verlieren dürfen, das Ding dokumentiert unsere Einreise und damit die maximale Aufenthaltsdauer). Zwischen den beiden Ländern im „Niemandsland“ stand etwas verloren das Grenzschild für beide Länder herum, aus unserer Sicht genau falsch herum … scheint hier aber niemand wirklich zu jucken.

Zwei Meter hinter der Grenze mussten wir umringt von Händlern und Taxianbietern entscheiden, ob wir die knapp fünf Kilometer zum bolivianischen Busbahnhof zu Fuß oder mit Taxi zurücklegen. Der weibliche Teil der Reisegruppe setzte sich mit seinem (etwas pauschalen) Misstrauen gegen südamerikanische Taxifahrer durch und so liefen wir zunehmend langsam in der Mittagssonne gen Norden. Was uns am Ende des Marsches – und der Kräfte – im Busbahnhof erwartete, kann man mit Worten kaum beschreiben: Ein ungeheures und anhaltendes Geschrei von Frauen, die Zielorte in die Welt riefen. Es waren Dutzende von Reiseagenturen vertreten (kleine Verschläge, die dicht aneinander gedrängt die runde Eingangshalle mit ihrer hohen Kuppel füllten) und vor jeder stand mindestens eine Marktschreierin. Die Ruferinnen überboten sich in Lautstärke und variantenreichen Betonungen von Zielorten wie „POTOSÍ … POOOOTOSIIIIIII … POTOOOOOSI …“. Das Gute an diesem lautstarken Chaos war, dass am Ende nicht alle Anbieter Sitze für denselben Bus verkauften, sondern tatsächlich mehrere Busse unseren Zielort (tatsächlich!) Potosí anfuhren. Wir nahmen den erstbesten Bus, nur um wegzukommen.

Es hat noch gehalten …

Beim Einstieg dann weitere einschlägige Erfahrungen: die Busse – wie vieles andere auch – sind definitiv nicht für Menschen gemacht, die größer als 165 cm sind … meine Schädeldecke kann davon ein Lied singen. Im Oberdeck angekommen vermissen wir nicht nur größere Türöffnungen sondern auch den deutschen TÜV: Dem Frontfenster scheint nicht mehr viel zu fehlen, bis es schlicht in sich zusammenbricht. Keine gute Ausgangsbasis für eine mehrstündige Fahrt über holprige Pisten und Gebirgsstraßen … aber wir verziehen uns mit einer gewissen Erleichterung auf unsere Sitze im hinteren Bereiche des Busses.

Der Bus stand noch eine Weile im Bahnhof und wir konnten diese halbe Stunde interessante soziale Studien betreiben: Offenbar war eine Großfamilie – ohne Mann – unterwegs und hatte das obere Deck fest vollständig in Beschlag genommen. Geführt wurde die Truppe von einer Matrone um die 60 und so war sie es, die uns nach unseren Sitznummern fragte. Was wir erst für höfliche Hilfe hielten, war eher eine Frage der Reorganisation von Gepäckstücken, die über den Sitzen in den Gepäckhalterungen und unter den Sitzen am Boden verstaut waren. Wir waren dankbar, als der Bus losfuhr, da sich das muntere Herumlaufen, Verstauen, Hervorholen und erneutes Verstauen legte und die Familienmitglieder alle ihre Plätze einnahmen. Die Stimmung um uns herum war gut und es wurde viel gelacht.

Das änderte sich schlagartig, als der Bus nach etwa 15 Minuten auf freier Bahn angehalten wurde. Wir standen an einem Kontrollposten des bolivianischen Zolls und beim Blick aus dem Fenster waren ca. ein Dutzend uniformierte und bewaffnete Personen zu erkennen, die teilweise Mund- und Gesichtsschutz trugen. Im Bus tauchten zwei Zollbeamte in Zivil auf, die ausgesprochen höflich, aber sehr bestimmt alle Gepäckstücke untersuchten und sehr präzise Einzelstücke herausgriffen und nach unten gaben. Die Großfamilie war völlig still, die Matrone war unscheinbar in der letzten Reihe im Sitz abgetaucht, eine Jugendliche bat gedämpft immer wieder „por favor, por favor…“ … aber am Ende war mehr als die Hälfte der Gepäckstücke und Kartons konfisziert und in der Zollhütte verschwunden. Auch der Gepäckraum des Busses wurde geöffnet und mehrere Taschen herausgeholt und einbehalten. Der ganze Vorgang dauerte etwa 30 Minuten, es wurden keine Personalien aufgenommen oder sonstige Formalitäten bemüht; auf der anderen Seite waren die Reisenden sich offenbar ihrer Schuld und Ohnmacht bewusst und artikulierten keinerlei Protest gegen den Einzug eines (vermutlich) kleinen Vermögens.

Während der weiteren Fahrt hing eine trübe Stimmung im Oberdeck, die Matrone berichtete telefonisch ihrem oder einem Mann von dem Fiasko und nur einmal kam wieder Stimmung auf, als unter einem Sitz ein vom Zoll übersehenes Paket auftauchte.

Die Episode blieb uns noch eine ganze Weile in Erinnerung, da sie uns bereits beim Eintritt nach Bolivien verdeutlichte, wie sehr die Leute hier auf den Kleinhandel angewiesen sind. Der informelle Sektor ist in Bolivien viel stärker und präsenter als in Chile oder Argentinien. Bolivien hat mit knapp 3.400,- USD pro Kopf das niedrigste Bruttosozialprodukt in Südamerika (Chile: 16.000,- USD/ Argentinien: knapp 11.000,- USD). In anderen Worten: Es ist das ärmste Land des Kontinents.

Das Wappen mit em Silberberg Cerro Rico (Potosí) in der Mitte

Mit dem Grenzübertritt nach Bolivien begann somit eine neue Etappe unserer Reise: vom europäisch geprägten Teil Südamerikas in den deutlich indigeneren Teil des Kontinents, in dem der Kolonialismus deutlich stärker „gewütet“ (sprich: ausgebeutet) hat und die sozialen Folgen bis heute deutlich stärker zu Tage treten. Das ist umso absurder, als ausgerechnet auf dem Gebiet des heutigen Boliviens die Silberstadt Potosí liegt, einstmals die reichste Stadt der Welt. Bis heute verfügt Bolivien über Unmengen an wertvollen Ressourcen (von Silber über Zinn und Kupfer bis Lithium), die jedoch für jeden sichtbar nicht zum Wohlstand im Land selbst beitragen. Die weitere Reise verspricht ein Lehrstück in Sachen postkolonialer Ausbeutungsstrukturen zu werden. Daher bestand die Reiselektüre auf der Busfahrt auch aus dem Klassiker „Die offenen Adern Lateinamerikas“ von Eduardo Galeano. Doch dazu später mehr …