[Chile/ Argentinien] Ähnlich wie der bereits zitierte Schriftsteller und Präsident Sarmiento (vgl. Blog #59) war ein Großteil der nationalen Helden des 19. Jahrhunderts in Chile und Argentinien der Meinung, dass lediglich die „europäische Rasse“ der Stoff ist, aus dem die neuen Staaten aufgebaut werden sollten. Indigene und Schwarze galten als minderwertig und wurden bis ins beginnende 20. Jahrhundert mit ausgefeilten Wahlregelungen der weißen, europäisch-stämmigen Eliten von Wahlen ausgeschlossen.

Die herrschende Elite in Form einer kleinen, reichen Oligarchie vermochte es über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg ihre Pfründe und Vormachtstellung zu verteidigen. Einer extremen Bereicherung dieser kleinen Gruppe Superreicher (die sich auch gegen die späteren europäischen Einwanderer ab etwa 1880 abgrenzte), dienten die Vernichtungsfeldzüge im Süden von Chile bzw. Argentinien. In beiden Fällen waren insbesondere die Mapuche betroffen, eine indigene Gemeinschaft, die weite Teile des Südens (u.a. Patagonien) bevölkerte und die sich über Jahrhunderte einer Kolonisierung erfolgreich widersetzt hatten (Friedensvertrag von Quilin mit Spanien kam nach 90 Jahren Kampf 1641 zustande). Angesichts der Weide- und Waldressourcen im Süden sowie des „nationalen“ Drangs nach Expansion unternahmen sowohl Chile als auch Argentinien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts grausame Eroberungs- bzw. Vernichtungsfeldzüge gegen die indigene Stammbevölkerung, mit der Rechtfertigung, sie seien wild, barbarisch, unzivilisiert und kriminell.

Die Feldzüge tragen in der nationalen Geschichtsschreibung die verklärende bzw. verharmlosende Bezeichnungen. In Chile spricht man vom „Befriedungsfeldzug“ („pacificación de La Araucanía“) des Generals Cornelio Saavedra während der Regierung von José Joaquin Pérez (Präsident 1861-1871). In Argentinien läuft der Krieg gegen die Indigenen als „Wüstenkampagne“ („Conquista del Desierto„), die unter General Julio Argentino Roca zwischen 1878 und 1880 durchgeführt wurde. In Chile ging es um die Gewinnung zusätzlicher Flächen für den Weizenanbau, mit dem die angestiegene Nachfrage durch den Goldrausch in Kalifornien befriedigt werden sollte. In Argentinien konnte die Anbaufläche für Mais und Weizen durch Vertreibung der indigenen Bevölkerung (aus der vermeintlichen „Wüste“) um das Fünfzehnfache erweitert werden. Von diesen Flächengewinnen profitierten ausschließlich weiße Mitglieder der Oberschichten in Chile und Argentinien. Selbst europäische Einwanderer waren in Argentinien Ende des 19. Jahrhunderts vom Erwerb des Landes ausgeschlossen. Der exzessive Reichtum dieser Oligarchie kann heute in den Prunkbauten in Buenos Aires und Santiago sowie den absurd dekadenten Totenstädten in Recoleta (Buenos Aires) bestaunt werden. General Roca finanzierte seinen Enteignungskrieg gegen die Indigenen übrigens durch private Anleihen der künftigen Nutznießer. Gemäß Michael Riekenberg war das Ziel die „Reinigung“ des Territoriums von als unterlegen geltenden Bevölkerungen gewesen, wobei auf Seiten des Militärs von einer Vernichtungsbereitschaft auszugehen gewesen sei [Quelle].

Noch heute hängen in den Geschichts-Museen (z.B. in Mendoza im Museo Historico General San Martin und im Museo del Pasado Cuyano) Stiche aus der Zeit, die die Indigenen als Wilde zeigen, die vor der Abschlachtung von Frauen und Kindern nicht zurückschrecken … (ein Bilderzyklus zum unzivilisierten Zustand vor der Militärkampagne von 1879).
Diese staatlichen Feldzüge zur Durchsetzung privater Interessen zulasten indigener Gemeinschaften endeten nicht mit den Feldzügen des 19. Jahrhunderts. Es gibt auch in jüngster Zeit eine Vielzahl von Vorfällen, Menschenrechtsverletzungen und auch Massakern, die sich gegen die indigene Bevölkerung sowohl in Chile als auch in Argentinien richten. Besonders gravierend war das Massaker von Napalpi von 1924, bei dem es um die Durchsetzung der (Verwertungs-) Interessen von Großgrundbesitzern ging und dem etwa 400 Menschen – ermordet von Militär und Polizei – zum Opfer fielen.
Aktuellere Beispiele sind in Argentinien ein Beschluss der Provinzregierung Mendoza von April 2023 gegen die Mapuche (es ging auch hier um Land): in der Resolution des Parlaments werden die Verfassungsrechte der Indigenen negiert und erklärt, dass die Mapuche „kein ursprünglich argentinisches Volk“ seien. Die Initiative ging von Gouverneur Rodolfo Suárez aus und wurde mit der Regierungsmehrheit seiner Mitte-Rechts Partei Union Cívica Radical beschlossen [Quelle].
Noch aktueller agiert die Milei-Regierung gegen Mapuche, wie zuletzt Anfang Januar 2025 (auch hier geht es um Land). Die Innenministerin Bullrich ließ eine Mapuche-Siedlung in der patagonischen Provinz Chubut von der Bundespolizei räumen. „Über die Plattform X teilte Bullrich nach der Aktion ein Video, in dem sie aus der Kabine eines Bulldozers, untermalt mit martialischer Metal-Musik, verkündete: „Wir sind bereit, um diese Invasion im Nationalpark Los Alerces niederzureißen. Von nun an sind das Privateigentum, das Leben und die Freiheit der Argentinier wieder garantiert.“ [zit. nach Amerika21.de]. Möglich war die Räumung nur, weil die rechtspopulistische Milei-Regierung vor ein paar Monaten ein Schutzgesetz aufgehoben hatte, das seit 2006 behördliche Eingriffe im Falle von Territorialstreitigkeiten mit indigenen Gemeinden vorübergehend ausgesetzt hatte. Aktuell im Februar 2025 beschuldigt die Milei-Regierung die Mapuche der Brandstiftung in den von ihnen selbst bewohnten Wäldern und bleibt sich somit bei der pauschalen Kriminalisierung der Indigenen treu [Quelle].

In Chile gibt es teilweise gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Mapuche und Großgrundbesitzern, die insbesondere in der Forstwirtschaft Profitinteressen haben. Der Staat agiert mit Polizei und Militär gegen die Mapuche. Fälle wie das aktuelle „Verschwinden“ der Mapuche-Umweltaktivistin Julia Chunil, die seit letzten November spurlos verschwunden ist, werden dagegen offenbar mit wenig Engagement von den chilenischen Behörden verfolgt [Quelle]. Auch hier geht es um Land: Chunil war eine aktive Verteidigerin eines 900 Hektar großen Waldes gegen private Verwertungsinteressen der regionalen Forstindustrie und hatte im Vorfeld von Unternehmern Drohungen erhalten. Hier – wie in vielen anderen Fällen – ist es insbesondere die Zivilgesellschaft, die den öffentlichen Druck erzeugt, wenn auch im Fall Julia Chunils bislang leider noch ohne Erfolg. [Update vom 3.03.2025].
Nur unter dem linken Präsidenten Salvador Allende gab es Anfang der 70er-Jahre den Versuch einer Aufwertung der Mapuche und Anerkennung ihrer (kollektiven) Ansprüche auf (ihr eigenes) Land. Bekanntlich ist Allende als erster gewählter sozialistischer Präsident mit Unterstützung der USA 1973 vom Militär gestürzt worden. Einer der politischen Hauptkonfliktpunkte war seine Landreform (womit er der Oligarchie in Chile auf die Füße trat) und die Verstaatlichung der Minen (womit er ausländischen und insbesondere US-amerikanischen Interessen auf die Füße trat).
Auch 500 Jahre nach Kolumbus ist die Geschichte der gewalttätigen Ausbeutung dieser Länder zulasten der ursprünglichen indigenen Bevölkerung noch nicht beendet. Im Unterschied zur Situation vor 500 Jahren sind es jedoch keine „freidrehenden“ individuellen „Conquistadoren“ und marodierenden Hasardeure, sondern staatliche Akteure und ausländische Konzerne, die die (von Menschenrechten) ungehemmte Extraktionspolitik täglich und bis heute fortsetzen. Rechtspopulisten wie Milei in Argentinien bzw. Trump in den USA betreiben diese Politik mit einer völlig neuen Dynamik und Offenheit.
[…] In Chile und Argentinien fehlte von Beginn an der „Treibstoff“ der enthemmten Gier und gnadenlosen Gewalt, die Mittelamerika und die nördlicheren Länder bis zum heutigen Peru verwüsteten: es gab kaum Gold und Silber. Daher wurde das weite Land vergleichsweise langsam vereinnahmt. Trotz Fehlens von Edelmetallen mit nicht minder hoher Gewalt. Es waren Hunderte indigener Kulturen und Zivilisationen, auf die die Invasoren stießen und die sie fast ausnahmslos in kürzester Zeit vertrieben oder vernichteten. Nur die Mapuche im südlichen Chile leisteten ihnen unter ihrem Häuptling Lautaro erfolgreich Widerstand, der einige Jahrhunderte erfolgreich war (vgl. Blog #60). […]