[Conil de la Fronterra] Nachdem uns die Frage gestellt wurde, wie denn unser Alltag im Sabbatical aussieht, folgen hier ein paar erhellende Zeilen. Wörtlich genommen haben wir zum ersten Mal in unserem erwachsenen Leben tatsächlich die freie Verfügung über „All den Tag“, der Alltag gehört uns; anders als in Berlin, wo wir dem Alltag gehören. Wir haben keinerlei durch Dritte definierte Verpflichtungen und können frei über unsere Zeit verfügen. Und was tut man? Man baut Routinen, strukturiert den Tag und staunt dann, wenn sich a) die Tage gleichen und b) man nie zu dem kommt, was man sich „eigentlich“ vorgenommen hat. Wir müssen feststellen, dass es selbst bei 100% Zeitsouveränität nicht gelingt, den Alltag so zu gestalten, dass er alles aufnimmt, was man sich so vornimmt. Die logische Schlussfolgerung lautet, dass man sich offenbar zuviel vornimmt und sich so einer chronischen Überforderung (und dem dauerhaft schlechten Gefühl ungenutzter Zeit) aussetzt. Das ist hier nicht anders als zu Hause und bedeutet entweder, dass wir zu viele Altlasten mit uns im Kopf herumschleppen oder dass dieses Gefühl eines chronischen Zeitdefizits zum modernen Leben (in der Leistungsgesellschaft) dazu gehört.
Wie auch immer: unser Alltag hier ist eingekeilt zwischen spektakulären Sonnenaufgängen über den Bergen (gegen 8 Uhr beim morgendlichen Ausführen des Hundes) und spektakulären Sonnenuntergängen über dem Meer (gegen 18 Uhr beim Ausführen des Hundes). Wir sind Frühstücksmenschen, daher gehört ein solides Frühstück mit Flocken, frischem Obst, Joghurt, Brot, Saft und vor allem Kaffee (mit händisch aufgeschäumter Milch) zwingend zum Morgenritual. Der Kaffee ist eine feste Konstante über den ganzen Tag, er wird 3- bis 4-mal am Tag zu Hause eingenommen und in der Regel mittags als „Café con Leche“ auch in der Bar um die Ecke. Schon bei Frühstück werden die ersten spanischen Vokabeln, inkl. Ausnahmen, Zeiten inkl. Ausnahmen und Ausnahmen inkl. Ausnahmen wiederholt, dann geht es in den Spanisch-Unterricht, der in einer Kleingruppe bzw. im Einzelunterricht stattfindet. Das sind die Stunden, in denen ich mich frage, warum wir uns dem aussetzen: man fühlt sich klein, unbeholfen, linkisch bis schlicht doof. „Sätze“ sind ein endloses Gestammel, ein würdeloses Gewinde mit flehendem Blickkontakt zur (stoischen) Lehrerin, in der Hoffnung, sie könnte das erlösende Ende des Satzes formulieren … gnadenloses Scheitern, das Gefühl eines durchlöcherten Gehirns, in das die Worte mühsam reingepresst werden, nur um dann munter rauszukullern … und dafür bezahlt man noch! Dieser Teil des Alltags ist beschwerlich und von seiner Sinnhaftigkeit zweifelhaft, aber angesichts bevorstehender Herausforderungen in Lateinamerika alternativlos.
Um 13h dann wie früher in der Schule das erlösende Ende des Schultages und das eigentliche Leben kann wieder aufgenommen werden: Kaffee (s.o.) auf dem Rückweg nach Hause, Einkäufe in den mäßig gut sortierten Läden (mit wirklich dürftigem Angebot an Bio-Produkten) und dann Mittagessen zu Hause. Bei – in der Regel – gutem Wetter auf der Dachterrasse mit Blick auf den Atlantik, bei windigem Wetter eher im Appartement. Dann ist der Hund wieder mit einem Strandspaziergang dran und wenn man nicht aufpasst, dann ist bei Rückkehr schon fünf Uhr. Der Tag ist nicht mehr wirklich jung, man setzt sich an die Hausaufgaben und an die Wiederholung spanischer Vokabeln (inkl. Ausnahmen) und dann nähert sich schon die Frage, ob man zu Hause oder in der Bar zu Abend ist. Wir sind eher häusliche (und sparsame) Menschen und landen meist am häuslichen Tisch mit Salaten, Käsen, Weinen, Obst und gelegentlich Pasta und/oder Reis-/Kartoffelgerichten. Jeden Tag sagen wir uns, wir müssten mehr Fisch essen, immerhin schwimmen die ja direkt vor der Tür, das kommt aber definitiv zu kurz (holen wir morgen bestimmt nach).
Gelegentlich sind wir am Abend noch mit (deutschen) Leuten in einer Bar, in der Regel aber eher zu Hause. Gelegentliche Zoom-Treffen oder Telefonate mit den Kindern durchbrechen die Routine, aber eigentlich verlaufen die Abende sehr ähnlich, ohne Spieleabende (die mitgebrachten Spiele stauben hier etwas ein) und ohne das stundenlange Lesen spannender Bücher (die mitgebrachten Bücher stauben neben den Spielen etwas ein). Sie verlaufen in der Regel mit – wer hätte es erraten? – Spanisch. Zu allem Überfluss haben wir vor ein paar Wochen die TV-Serie „El Hierro“ begonnen, die es bei Movistar Plus (extra abonniert) nur auf Spanisch und nur mit spanischen Untertiteln gibt. Ein zweifelhafter Genuss, dem maschinengewehrartigen Sprachsalven im Bett zuzuhören und alle 2 Minuten zurückspulen zu müssen (und bei Pons die Worte nachschlagen zu müssen). Wir sind jetzt seit 2 Wochen mit der Verarbeitung zweier Folgen von je 45 Minuten beschäftigt und haben dem Krimi jede – wirklich jede! – Spannung genommen. Zudem haben wir nach wie vor keinen Schimmer, wer die Bösen sind. Schlimmer als die Lateinstunde bei Frau Winzer vor 40 Jahren, so dass ich heimlich „Dora, la Exploradora“ umgeschaltet habe … ein Film für Kids ab 3 … damit lässt sich der Alltag deutlich erfolgreicher beschließen.
Am Abend zeigt man sich – manchmal auch den Nachbarn – Fotos von den nach wie vor (s.o.) spektakulären Sonnenuntergängen. Die unterscheiden sich zwar kaum, sind aber alle immer wieder schön. Das ist dann vielleicht auch der einzig wirkliche Unterschied zum Alltag in Deutschland: die Tage gleichen sich zwar auch hier, Routinen schleichen sich ein und das Gefühl unerledigter Dinge geht auch hier nicht weg. Aber der Alltag ist nicht grau. Er beginnt hier im sonnigen Morgenrot und endet im sonnigen Abendrot. Er ist schlicht schön.