[Mendoza] Reisen ist auch deshalb ein Gewinn, weil es die Perspektiven erweitert. Man erkennt dann im Vergleich mit dem „Gewohnten“, dass das, was wie ein isoliertes Phänomen aussieht, in Wahrheit der Ausfluss sozialer Strukturen ist, die dann ganz anders zu hinterfragen sind.
Das Agieren und der Erfolg von Rechtspopulisten und Rechtsextremen ist leider schon länger kein Einzelphänomen in vereinzelten Ländern. Es ist – ähnlich wie der Durchmarsch des Neoliberalismus nach dem Fall der Berliner Mauer – ein internationales Phänomen, das die Basis des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Demokratie zersetzt. Umso wichtiger ist es, von anderen Ländern zu lernen, um die vergleichbaren Strategien von rechts und erfolgreichen Gegenstrategien von links zu erkennen (etwas, was die zunehmend vernetzte Rechte mit umgekehrten Vorzeichen schon länger macht). Hier ein Schlaglicht aus Argentinien im Frühjahr 2025:
Zeitgleich zum neuen zivilgesellschaftlichen Protest gegen #noCDU #noFdP #noAfD in Deutschland fanden am 1. Februar landesweit große Demonstrationen gegen die argentinische Regierung und den selbsternannten anarcho-kapitalistischen Präsidenten Milei und seine Politik statt. Alleine in Buenos Aires gingen über 600.000 Menschen auf die Straße. Wir konnten im erheblich kleineren Mendoza eine sehr große und bunte Menschenmenge beobachten, die über eine Stunde lang zornig-selbstbewusst an uns vorbeizog. Die zivilgesellschaftliche Zusammensetzung reichte von Rentner*innen über Gewerkschaften zu einer Vielzahl von LGBTQ-Gruppen. Deren Dominanz erklärt sich auch aus den letzten Provokationen Mileis, der auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos vor wenigen Tagen gegen Homosexuelle (homosexuelle Paare seien pädophil), gegen Feminismus (Femizide werden aus dem Strafgesetzbuch gestrichen) und gegen „Wokeismus“ (müsse „aus der menschlichen Spezies entfernt werden“) gehetzt hat. Die Demonstrationen waren gesellschaftliche breit aufgestellt, beeindruckend groß und vollkommen friedlich.
Was lernt uns das?
- Das Narrativ eines globalen Durchmarschs der Rechtspopulisten und Rechtsextremen ist immer auch ein Teil deren Öffentlichkeitskampagnen (oftmals im Zusammenspiel mit den konservativen – in der Regel privaten – Medien). Wer sich von dem Narrativ lähmen lässt, hat verloren. Öffentlicher Protest, Widerstand und die öffentliche Artikulation von Gegenpositionen wie am vergangenen Wochenende sind wichtig und durchbrechen das Bild einer vermeintlichen rechten Dominanz bzw. Mehrheit. Wir haben als Deutsche am Rande der argentinischen Demonstrationen Erleichterung und Solidarität verspürt, weil man für einen Moment mit dem ganzen Irrsinn der aktuellen Weltpolitik nicht alleine war.
- Die Rechten führen ihren Kampf gegen „das System“ disruptiv auf zwei Ebenen: Auf der ersten Ebene geht es im Wirtschafts- und Sozialgefüge um die Durchsetzung klassischer neoliberaler Dogmen, die viel ungeschminkter als früher einen radikalen Rückbau des (Sozial-) Staates sowie der öffentlichen Daseinsvorsorge, einen Ausbau der Privatisierung und die „Entfesselung“ der Kräfte des vermeintlich „freien“ Marktes fordern. Träger und Profiteure dieser Politik sind die neuen Oligarchien des digitalen Kapitalismus, eine kleine Gruppe Superreicher. Überlagert wird dieses erste (ökonomische) Ebene durch eine zweite Ebene des sog. „Kulturkampfes“, in dem es – ebenfalls disruptiv im Sinne möglichst lauter und gezielter Tabubrüche – um den „Kampf“ gegen alles Andersartige, gegen Gendern, LGBTQ, Linke & Wokeness, Inklusion, ethnische Minderheiten und besonders konsequent gegen Migrant*innen geht. Die Akzentuierungen sind hier unterschiedlich, die Muster aber länderübergreifend identisch. Milei ist hier prototypisch unterwegs: Er führt den Kampf – mangels relevanter Migrationsströme von außen – gegen konstruierte Gegner*innen im Inland und die indigene Bevölkerung im Süden des Landes. Der radikale und laute Kulturkampf hat eine einzige Funktion: vom Raubbau am Staat und dem Ausverkauf gesellschaftlicher Ressourcen abzulenken. Im Kern geht es – wie in den USA unter Trump – um die Durchsetzung ökonomischer Interessen einer kleinen Gruppe von Menschen. Der jeweilige „Kulturkampf“ dient dabei sowohl als Nebelkerze als auch der Mobilisierung einer größeren Gruppe von Menschen, die bei der Hetze nach außen übersieht, dass ihre eigenen sozio-ökonomischen Interessen im Inneren massiv beschädigt werden. Das ist der der „Kunstgriff“ der Rechtspopulisten und hier müssen Gegenstrategien ansetzen.
- Es ist kein Zufall, dass die LGBTQ-Gemeinde a) ein wichtiger Träger der Proteste ist und b) in fast allen rechtspopulistischen Regierungen das innenpolitische Feindbild Nummer 1 darstellen. Das liegt weniger an der Verteidigung „klassischer“ Familienbilder und -rollen als an einem machtpolitischen Aspekt: Die LGBTQ-Gemeinden sind in der Regel gut vernetzt und sehr mobilisierungsfähig. Das zeigte sich aktuell in Argentinien, wo sie zu den wichtigsten Initiator*innen und Träger*innen des Protests gehören. Daher ist der Kampf um und für LGBTQ-Rechte ein zentraler Fokuspunkt im Kampf gegen rechts und sollte auch strategisch in entsprechenden Bündnissen Berücksichtigung finden. Allerdings ist aus den o.g. Gründen die zweite große Gruppe mobilisierungsfähiger Institutionen ebenso erfolgskritisch: Die Gewerkschaften, die zentraler Träger des sozio-ökonomischen Protests sind.
Das sind Gedanken, die einem beim Reisen im Frühjahr 2025 kommen. Die AfD in Deutschland mag einem in vielen Punkten und im Agiere vergleichsweise moderat erscheinen. Die beängstigende Frage ist aber: Auf wieviel Unterstützung bei den Wähler*innen könnte die AfD bauen, wenn sie über einen polarisierende und vollkommen enthemmte Figur wie Trump oder Milei verfügen würde? Die Antwort und den Fall sollte man gar nicht erst abwarten und sich heute schon klar machen, welche Bedeutung die institutionellen Anker der Demokratie (wie die unabhängige Justiz und öffentlich-rechtliche Medien) haben und eben auch die o.g. Aspekte wie öffentlicher Einspruch, Entlarvung der Interessenpolitik weniger zulasten vieler sowie die strategische Vernetzung auf zivilgesellschaftlicher Ebene.
Solidarische Grüße aus dem fernen Mendoza in Argentinien, das auf eine gewisse Weise ganz nah ist…